Studentenproteste in zwanzig Städten
Immer mehr Studenten protestieren in ganz Deutschland gegen Missstände im Bildungssystem.
Studentenproteste in 20 Städten
Immer mehr Studenten protestieren in ganz Deutschland gegen Missstände im Bildungssystem.
In 20 Städten hielten sie am Donnerstag Hörsäle besetzt, teilweise kam es zu Auseinandersetzungen mit den Hochschulrektoren. In Tübingen ließ der Rektor von einer Hundertschaft der Polizei den seit einer Woche blockierten größten Hörsaal räumen. Bundesbildungsministerin Annette Schavan forderte unterdessen ihre Länderkollegen auf, vereinbarte Änderungen in der Studienstruktur rasch umzusetzen und die Studiengänge zu entschlacken.
Auf Transparenten forderten die Studenten die Abschaffung der Studiengebühren und beklagten überfüllte Vorlesungen. Die Studenten mahnten neben überlasteten Studiengängen auch soziale Ungleichheiten im Bildungssystem an. Zudem kritisierten sie, dass die Unis chronisch unterfinanziert seien und die Umstellung von Diplom- und Magisterabschlüssen auf Bachelor und Master mangelhaft sei. Am 17. November wollen Studentenorganisationen einen Protesttag an hundert Hochschulen organisieren. Die Proteste hatten vor rund drei Wochen in Wien begonnen und breiten sich seit gut einer Woche auch in Deutschland aus.
«Wir verschließen hier keine Türen, es sollen alle zu den Lehrveranstaltungen gehen», sagt Student Henry Webel. Der 22-Jährige hat bereits beim Bildungsstreik im Juni mitgemacht. Weil die Streiks bisher nicht viel gebracht hätten, werde jetzt wieder demonstriert, sagte er. Die meisten Studenten wollen aber trotz ihres Protestes weiter studieren.
Die Präsidentin der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), Margret Wintermantel, hat die protestierenden Studenten zu einem offenen und sachlichen Dialog an den Hochschulen aufgerufen. «Es gibt unbestritten an etlichen Stellen Nachbesserungsbedarf bei der Studienreform. Das sollten alle Beteiligten gemeinsam angehen», sagte Wintermantel am Freitag in Bonn. Die Protestaktionen seien ein deutlicher Indikator dafür, dass politisches Handeln gefordert sei. «Wir brauchen mehr Personal in der Lehre, um die Qualität des Studiums zu halten und zu verbessern. Studierendenzentrierte Lehre, wie sie in der Bologna-Reform gemeint ist, erfordert kleinere Seminare, in denen das Gespräch und der Austausch zwischen Lehrenden und Lernenden möglich ist. Seit langem wissen wir aus Berechnungen des Wissenschaftsrats, dass die Studienreform 15 Prozent mehr finanzielle Mittel für die Lehre erfordert.»
Krawall mit Angriffen auf Professoren sei nicht der richtige Weg, sagte Wintermantel. Studenten müssten vernünftige Formen des Protests wählen und sachlich argumentieren. Es sei aber richtig, dass «die Studierenden sich zu Wort melden und deutlich machen, dass ihre Studienbedingungen besser werden müssen und mehr für ihre soziale Sicherung getan werden muss».
«Wir sollten durchaus anerkennen, dass die Politik gerade in den letzten Wochen wichtige Voraussetzungen zugunsten der Bildung und damit auch von Verbesserungen der Studienbedingungen geschaffen hat. Aufgrund der Bedeutung und der Größe der Aufgaben muss es jetzt ein gemeinsames nationales Handeln geben.
Es gibt keinen Anlass, die Bologna-Reform in Bausch und Bogen abzulehnen. Wir wissen aus den bisher vorliegenden Studien beispielsweise, dass der Arbeitsmarkt für Bachelorabsolventinnen und -absolventen sich gut entwickelt. Es besteht kein Anlass für Panikmache, was die beruflichen Perspektiven angeht.», betonte Wintermantel.
Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Michael Sommer, forderte von der neuen schwarz-gelben Bundesregierung, bei der Bildung Prioritäten zu setzen. Die Regierung müsse klar sagen, ob sie kostspielige Steuersenkungen für reiche Erben und Firmen wolle oder mehr Geld für ein gutes Bildungssystem, sagte er. Der bildungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Ernst Dieter Rossmann, forderte Schavan auf, unverzüglich mit den Ländern Verhandlungen zu einem Pakt für bessere Studienbedingungen und eine bessere Lehre auf den Weg zu bringen.
Bundesweit sind Hörsäle besetzt
In München, wo bereits die Akademie der bildenden Künste besetzt ist, nahmen etwa 300 Studenten auch das Audimax der Ludwig- Maximilians-Universität in Besitz. Die Hochschulleitung blieb gelassen: «Bis auf weiteres dulden wir die Besetzung des Audimax», sagte eine Sprecherin. Auch in Göttingen besetzten Studierende ein Gebäude. Der Protest sei friedlich und gewaltfrei verlaufen, sagte ein Universitätssprecher. An der Universität Hamburg blockierten mehrere hundert Studenten ebenfalls den zentralen Hörsaal. An eine Räumung sei nicht gedacht, sagte eine Sprecherin der Hochschulleitung.
In Berlin wollen Studenten zwei Hörsäle der Humboldt- Universität und Freien Universität (FU) bis zum 17. November besetzt halten. Am Donnerstag versammelten sich mehrere hundert Studierende, um gegen die Missstände im Bildungssystem zu demonstrieren. Die Hochschulleitung der FU signalisierte, dass sie die Aktionen tolerieren werde. Eine lange Liste von Forderungen klebten die Studenten der Humboldt-Uni an die Tür des Präsidenten Christoph Markschies. «Wir haben 95 Thesen zur Reformation der Bildungsinstitutionen formuliert», erzählt eine Studentin. Darin fordern sie unter anderem den Abbau von Zulassungsbeschränkungen, eine Uni-Präsidentin und kostenlose Bildung für alle.
Die Räumung des Hörsaals in Tübingen sei ohne Probleme verlaufen, sagte ein Polizeisprecher. Nachdem die rund 200 Besetzer ein Ultimatum des Rektors verstreichen ließen, rief dieser die Polizei. «Es war eine friedliche Atmosphäre und ein reibungsloser Ablauf», sagte ein Polizeisprecher. Am Nachmittag zogen rund 400 Studenten friedlich durch die Tübinger Innenstadt. Uni-Rektor Bernd Engler warf den Besetzern mangelnde Gesprächsbereitschaft vor.
An der Universität Duisburg-Essen setzte das Rektorat, das die Proteste bislang duldete, den Besetzern eine Frist bis Freitagabend. In Münster planten Studenten, einen Hörsaal zu belegen, um ein Forum für Diskussionen zu schaffen. Vor einer Woche hatte die Universität dort das Audimax nach zweitägiger Besetzung von der Polizei räumen lassen und Anzeige wegen Hausfriedensbruchs erstattet.
Auch in Bielefeld, Heidelberg, Mainz, Dresden, Potsdam, Würzburg und Coburg hielten Studenten Räume in den Universitäten besetzt. In Magdeburg sollte bei einem Treffen am Donnerstagabend über Protestaktionen beraten werden.
DPA, Katia Rathsfeld/HRK/KP