Super-Lichtquelle für faszinierende Einblicke ins Atom
Neuartiges Konzept für eine hochintensive Gamma-Strahlenquelle am CERN.
Eine neue Quelle von hochintensiven Gammastrahlen zu entwickeln und dazu die vorhanden Beschleunigeranlagen am CERN zu nutzen, schlägt die internationale „Gamma Factory Initiative“ vor. Dazu sollen in den SPS- und LHC-Speicherringen spezielle Ionenstrahlen zirkulieren, die durch Laserlicht dazu angeregt werden, Photonen zu emittieren. In der gewählten Konstellation liegen die Photonen energetisch im Gammastrahlen-Bereich des elektromagnetischen Spektrums. Dieser ist für die Spektroskopie von Atomkernen besonders interessant. Darüber hinaus soll der Gammastrahl eine sehr hohe Intensität aufweisen, die mehrere Größenordnungen über den derzeit im Betrieb befindlichen Anlagen liegt. Eine derart konzipierte Gamma-Fabrik könnte bahnbrechende Experimente in der Spektroskopie und neue Testmethoden für grundlegende Symmetrien der Natur ermöglichen, so die Forscher.
Im Zentrum der Gamma-Fabrik stehen besondere Ionenstrahlen – sie bestehen aus schweren Elementen wie Blei, haben aber fast alle Elektronen in der äußeren Hülle abgestreift. Normalerweise hat ein Bleiatom 82 Protonen im Kern und 82 Elektronen in der Hülle. Bleiben von diesen nur noch ein oder zwei Elektronen übrig, entstehen „Partially Stripped Ions“, kurz PSI. In der künftigen Gamma-Fabrik zirkulieren sie in einem Hochenergie-Speicherring – wie etwa dem Super Proton Synchrotron SPS oder dem Large Hadron Collider LHC am CERN.
PSI bieten einzigartige Möglichkeiten für die Erforschung verschiedener grundlegender Fragen in der modernen Wissenschaft. Im Bereich der Atomphysik dienen sie im übertragenden Sinne als Mini-Labor, um zu untersuchen, wie sich Systeme mit wenigen Elektronen verhalten, wenn sie starken elektromagnetischen Feldern ausgesetzt sind – letztere werden im Falle von PSI von den Atomkernen selbst erzeugt.
Die Hauptidee der Gamma-Fabrik ist es, einen Laserstrahl frontal auf einen beschleunigten PSI-Strahl prallen zu lassen. Im „PSI-Labor“ lassen sich so durch die einfallenden Photonen angeregte Zustände erzeugen, indem Elektronen auf höhere Bahnen befördert werden – ein ideales Testsystem, welches detaillierte atomspektroskopische Untersuchungen ermöglicht. Die mit dem Laserstrahl angeregten PSI emittieren ihrerseits wiederum Photonen, die in einer Vielzahl von weiteren Experimenten außerhalb des PSI-Labors eingesetzt werden können. Der hierbei erzeugte Strahl von Gammastrahlen weist hohe Energien bis zu vierhundert Megaelektronenvolt auf, das entspricht einer Wellenlänge von drei Femtometern.
„Die Gamma-Fabrik, die wir vorschlagen, bietet uns damit gleich zwei Perspektiven: Sie ist einerseits eine sehr intensive Lichtquelle, die hochenergetische Gammastrahlen mit einem ganz spezifischen Frequenzband erzeugt, und gleichzeitig eine Riesenionenfalle, in der wir die im Speicherring zirkulierenden PSI spektroskopisch ganz genau unter die Lupe nehmen können“, erläutert Dmitry Budker vom Exzellenzcluster PRISMA+ der Uni Mainz und dem Helmholtz-Institut Mainz.
Beispiele für physikalische Anwendungen der Primärstrahlspektroskopie sind Messungen von Atomparitäts-Verletzungseffekten in PSI – diese sind eine Folge der schwachen Wechselwirkungen zwischen den subatomaren Teilchen – sowie Messungen der Verteilung der Neutronen in den Kernen der PSI. Die sekundären, hochenergetischen Gammastrahlen mit exakt kontrollierter Polarisation werden beispielsweise in Verbindung mit festen polarisierten Targets verwendet, um die Struktur der Atomkerne und die für die Astrophysik relevanten Kernreaktionen zu untersuchen. Die sekundären Gammastrahlen können darüber hinaus zur Erzeugung intensiver tertiärer Strahlen, beispielsweise aus Neutronen, Myonen oder Neutrinos, verwendet werden.
Für einen optimalen Betrieb der Gamma-Fabrik sind eine Reihe von technologischen Herausforderungen zu bewältigen. „So müssen wir beispielsweise lernen, ultrarelativistische PSI mittels Laserkühlung zu behandeln, um deren Energieausbreitung zu reduzieren und so einen wohldefinierten Strahl zu erhalten“, erläutert Budker. „Während die Laserkühlung von Ionen bei niedrigeren Energien beispielsweise an der GSI in Darmstadt untersucht wurde, ist sie bei solch hohen Energien wie in der Gamma-Fabrik noch nicht durchgeführt worden.“
Reine Zukunftsmusik ist die Gamma-Fabrik nicht, denn bereits im Juli 2018 vollzog sie am CERN einen großen Schritt von der Idee zur Realität: Der Gamma-Factory-Gruppe gelang es zusammen mit den Beschleunigerexperten des CERN, Strahlen aus wasserstoff- und heliumähnlichem Bleiionen mehrere Minuten lang im SPS zirkulieren zu lassen. Der wasserstoffähnliche Strahl wurde weiter in den LHC injiziert, wo er mehrere Stunden weiter zirkulierte. „Der nächste entscheidende Schritt ist das spezielle Proof-of-Principle-Experiment am SPS des CERN durchzuführen, das das gesamte Konzept der Gamma-Fabrik validieren soll“, so Budker. Das Konzept der Gamma-Fabrik wird derzeit im Rahmen des CERN-Programms „Physics Beyond Colliders“ untersucht.
JGU / RK
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung:
D. Budker et al.: Atomic Physics Studies at the Gamma Factory at CERN, Ann. Phys., online 9. Juli 2020; DOI: 10.1002/andp.202000204 - Exzellenzcluster PRISMA+, Johannes Gutenberg-Universität Mainz