Im Jahr 1933 hatten Walther Meißner und Robert Ochsenfeld an einer Zinn-Probe nach ihnen benannten Effekt entdeckt, demzufolge Supraleiter ein von außen angelegtes Magnetfeld aus ihrem Inneren verdrängen. Der Nachweis dieses Effekts gilt heute noch als Schlüssel zum sicheren Beleg der Supraleitfähigkeit eines Materials. Interessanterweise liegt Zinn je nach Kristallstruktur in unterschiedlichen möglichen Konfigurationen vor, bei Raumtemperatur etwa als α-Zinn („grauer Zinn“) mit kubischem Diamantgitter oder als β-Zinn („weißer Zinn“) mit oktaedrischem Kristallgitter.
Abb.: Rechts zu sehen sind das Substrat, auf dem drei Atomlagen Stanen aufgebracht sind, links oben einlagiges Stanen und darunter die atomaren Abstände. (Bild: M. Liao et al. / NPG)
Zinn ist als Volumenmaterial supraleitend, aber nur in der weißen β-Phase. Das graue α-Zinn zeigt keine Supraleitung. Atomar dünne Schichten aus Zinn werden analog zu kohlenstoffbasiertem Graphen „Stanen“ genannt und liegen ebenso wie Graphen in hexagonaler Honigwaben-Struktur vor. Die Atome im Stanen liegen allerdings nicht völlig eben, sondern sind leicht nach oben und unten verschoben. Da Stanen strukturell der α-Phase entspricht, würde man keine Supraleitfähigkeit erwarten. Wie ein internationales Forscherteam um Qi-Kun Xue von der Tsinghua-Universität in Peking jetzt herausgefunden hat, zeigt dreilagiges Stanen überraschenderweise aber doch Supraleitfähigkeit.
Die Wissenschaftler waren eigentlich auf der Suche nach dem Quanten-Spin-Hall-Effekt, der nach theoretischen Modellen für Stanen vorhergesagt ist. Das Stanen erzeugten sie per Molekularstrahlepitaxie auf einem dünnen Substrat, das aus Silizium, Bismuttellurid und Bleitellurid aufgebaut war. Die Dicke der verschiedenen Dünnfilm-Schichten überprüften die Wissenschaftler mit Hilfe der Rastertunnelmikroskopie.
Bei tiefen Temperaturen um ein Kelvin konnten die Forscher an ihrem Material einen überraschenden Einbruch der Leitfähigkeit messen – ein wichtiger, aber noch nicht entscheidender Hinweis auf die Supraleitfähigkeit. Um diese Eigenschaft sicher festzustellen, wollten sie sehen, ob ihre Probe den Meißner-Ochsenfeld-Effekt aufzeigt und ein äußeres Magnetfeld verdrängt. Hierzu brachten sie ihre Probe zwischen zwei Polschuhe und kühlten sie in einem Helium-3-System herunter. Sollte echte Supraleitung vorliegen, würde das Material die Feldlinien zwischen beiden Polschuhen voneinander abschneiden. Bei 0,7 Kelvin zeigte sich tatsächlich der erwartete Effekt.
Die Bandstruktur des Materials überprüften die Wissenschaftler mittels winkelaufgelöster Photoemissionsspektroskopie, sowie mit Tieftemperatur-Magneto-Transport-Techniken. Diese Versuche ließen sich an Stanen besonders gut durchführen, denn Stanen ist sehr robust und benötigt keine Schutzschicht, die zu Dotierungseffekten, kristallinen Störstellen oder unerwünschtem Magnetismus führen könnte. Wie diese Messungen ergaben, besitzt einlagiges Stanen keine Bänder, die über die Fermi-Kante hinausragen. „Bei mehrlagigem Stanen sehen wir jedoch zusätzliche Bänder, die die Fermi-Kante kreuzen, was zu Leitfähigkeit und darüber hinaus bei tiefen Temperaturen zu Supraleitfähigkeit führt“, sagt Team-Mitglied Ding Zhang.
Diese überraschende Entdeckung könnte sich in Zukunft vor allem für die Suche nach neuen topologischen Materialien als hilfreich erweisen. Theoretische Überlegungen legen nahe, dass Stanen bei Raumtemperatur den Quanten-Spin-Hall-Effekt zeigt. Allein dieser Nachweis wäre wichtig. Wenn es zudem gelänge, die jetzt nachgewiesene Supraleitung mit topologischen Eigenschaften zu verbinden, ließe sich eventuell ein Material mit topologischer Supraleitung kreieren. Dank seiner Robustheit und Belastbarkeit könnte Stanen hier für weitere Überraschungen sorgen.
Andere, vergleichbare Dünnschicht-Materialien wie etwa einlagiges Blei oder Indium oder zweilagiges Gallium sind so zerbrechlich und empfindlich gegenüber äußeren Einwirkungen, dass sie mit einer Schutzschicht aus Gold oder Silber überzogen werden müssen, bevor man sie aus ihrer Hochvakuum-Wachstumszelle heraus an den rauen Laboralltag befördert. Seine Beständigkeit gegenüber Umwelteinflüssen macht Stanen hingegen für Anwendungen besonders interessant. Wie die Wissenschaftler berichten, blieb ihre Stanen-Probe auch nach über einem Jahr Lagerung noch supraleitend.
Nach ersten Versuchen benötigt Stanen dank seiner zweidimensionalen Struktur und einer starken Spin-Bahn-Kopplung ein relativ starkes Magnetfeld, um die Supraleitung zu unterbinden. Die Forscher wollen als nächstes deshalb das Magnetfeld bei ihrem Versuch möglichst exakt entlang der Stanen-Ebene ausrichten, um seine magnetischen Eigenschaften besser zu untersuchen.
Dirk Eidemüller
RK