03.04.2014

Tarnkappe gegen Erdbeben?

In Reihen angeordnete Bohrlöcher halten seismische Wellen zurück.

Licht- und Schallwellen kann man mit geeignet strukturierten Materialien um ein Hindernis herumleiten, das dadurch „unsichtbar“ wird. Solch eine Tarnkappe lässt sich möglicherweise auch für seismische Oberflächenwellen fertigen, die für Erdbebenschäden an Gebäuden verantwortlich sind. Französische Wissenschaftler haben jetzt experimentell gezeigt, dass seismische Wellen von regelmäßig angeordneten Bohrlöchern stark abgeschwächt werden.

Abb.: Die mit 50 Hertz vibrierende seismische Quelle wird von einem Kran gehalten. Davor befinden sich drei Reihen von 5 Meter tiefen luftgefüllten Bohrlöchern. Mit zwanzig über das Areal verteilten Geschwindigkeitssensoren werden die seismischen Bewegungen an der Erdoberfläche gemessen. (Bild: S. Brûlé et al.)

Forscher und Ingenieure um Sébastien Guenneau von der Aix-Marseille Université und Stéphane Brûlé vom französischen Unternehmen Menard in Nozay haben das bislang aufwändigste Experiment mit einem „seismischen Metamaterial“ durchgeführt. Sie gingen dabei der Frage nach, inwieweit man die an photonischen oder phononischen Kristallen und Metamaterialien gemachten Erfahrungen zur Beeinflussung von Erdbebenwellen nutzen kann.

In photonischen oder phononischen Kristallen können sich Licht- bzw. Schallwellen für bestimmte Wellenlängen und Ausbreitungsrichtungen nicht fortpflanzen. Aufgrund des periodischen Aufbaus dieser Kristalle, dessen Gitterkonstante der Wellenlänge vergleichbar ist, löschen die an den Gitterpunkten gebeugten Teilwellen in bestimmten Richtungen einander aus. Im Kontinuum der Wellenzustände, die sich im Kristall fortpflanzen können, tun sich daraufhin Bandlücken auf, die die Ausbreitung bestimmter Wellen verhindern.

Die noch feiner strukturierten Metamaterialien wirken auf die Licht- bzw. Schallwellen wie eine homogene Substanz. Sie enthalten zahllose Resonatoren, die ihnen neuartige optische bzw. akustische Eigenschaften geben, wie sie natürliche Substanzen nicht besitzen. So können sie die Wellen in die „falsche“ Richtung brechen oder unbemerkt um Objekte herum lenken und diese wie unter einer Tarnkappe verschwinden lassen.

Abb.: Ein Vergleich der Sensorsignale für das Areal mit bzw. ohne Bohrlöcher zeigt, dass die seismischen Wellen hinter den Bohrlochreihen stark abgeschwächt sind (blaue Färbung), während sie in der Nähe der Quelle (rotes Kreuz) durch Reflexion verstärkt werden (rote Färbung). (Bild: S. Brûlé et al.)

Seismische Wellen entstehen im Erdinneren durch Erdbeben. Treffen sie auf die Erdoberfläche, so rufen sie Oberflächenwellen mit Frequenzen von 0,1 bis 50 Hertz hervor, deren Wellenlänge zwischen einigen Metern und einigen hundert Metern liegt. Da Gebäude von vergleichbarer Größe sind, werden sie von diesen Wellen stark in Mitleidenschaft gezogen. Die oberflächennahen Erdschichten haben eine komplizierte Zusammensetzung, sodass man die Ausbreitung seismischer Wellen in ihnen nur unter stark vereinfachenden Annahmen modellieren kann.

Dazu haben die Forscher in einer etwa 200 Meter dicken sandigen Tonschicht nahe Grenoble mit einer starken Schallquelle bei 50 Hertz in 2 Metern Tiefe seismische Wellen erzeugt. Die Amplitude der dabei entstehenden Oberflächenwelle haben sie mit 20 Geschwindigkeitsmessern bestimmt, die über eine Fläche von zirka 200 Quadratmeter verteilt waren. Daraus ließen sich u. a. die elastischen Eigenschaften der oberflächennahen Bodenschicht ermitteln. Anschließend bohrten die Wissenschaftler 30 Löcher senkrecht in den Boden, jeweils 5 Meter tief und 32 Zentimeter breit, die in drei Reihen angeordnet waren und Luft enthielten.

Die Maße und Eigenschaften dieses seismischen Metamaterials hatten die Forscher mit Bedacht gewählt. Berechnungen hatten nämlich ergeben, dass ein phononischer Kristall aus einer 5 Meter dicken und entsprechend durchlöcherten Platte, deren elastische Eigenschaften auf die der Bodenschicht abgestimmt waren, für Oberflächenwellen von 50 Hertz eine Bandlücke besitzt. Demnach war zu erwarten, dass das seismische Metamaterial die Oberflächenwellen mehr oder weniger schlecht durchlassen würde.

Das bestätigte sich, als die Forscher die Amplitudenverteilung der Oberflächenwellen innerhalb und in der Nähe der durchlöcherten Bodenschicht maßen und mit der zuvor gemessenen Amplitudenverteilung für die intakte Bodenschicht verglichen. Hinter dem seismischen Metamaterial war die elastische Energie der Oberflächenwellen auf ein Fünftel verringert. Vor ihm war sie jedoch deutlich erhöht, da hier die Wellen reflektiert worden waren. Damit scheint es möglich, Erdbebenwellen von gefährdeten Gebäuden fernzuhalten, wenn auch um den Preis einer Verstärkung des Erdbebens an anderer Stelle.

Forscher in Korea und Australien hatten vorgeschlagen, die seismischen Wellen mit Metamaterialien aus gelochten Röhren zu dämpfen und ihre zerstörerische Energie in andere Energieformen umzuwandeln. Auf diese Weise erscheint es sogar möglich, seismische Energie zu nutzen. Will man allerdings einen vollständigen Schutz vor seismischen Oberflächenwellen über einen großen Frequenzbereich, so benötigt man komplizierter strukturierte Metamaterialien, deren Aufbau auf die elastischen Eigenschaften der umgebenden Bodenschichten abgestimmte sein muss. Das bahnbrechende Experiment der französischen Forscher ist ein erster Schritt in diese Richtung.

Rainer Scharf

DE

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