02.05.2016

Thermodynamik und Zellfunktionen

Prinzip des detaillierten Gleich­gewichts identi­fi­ziert Lebens­prozesse.

Welche physikalischen Eigenschaften unterscheiden lebendige Orga­nismen von toter Materie? Diese Frage faszi­niert Wissen­schaftler seit jeher. Als ein grund­sätz­liches Schlüssel­merkmal für lebende Systeme gilt, dass sie sich nicht im thermo­dyna­mischen Gleich­gewicht befinden: Lebende Systeme wenden kontinu­ierlich Energie auf, etwa um Bewegung aus eigener Kraft möglich zu machen. Chase Broedersz von der Uni München hat nun in Zusammen­arbeit mit Wissen­schaftlern der Unis Göttingen und Amsterdam, sowie dem MIT und der Yale Uni­versity eine Methode entwickelt, mit der sich unter­scheiden lässt, welche Bewegungs­abläufe in lebenden Zellen aktiv ange­trieben werden und welche passiv durch Diffu­sion entstehen. Das ermög­licht einen tieferen Einblick in funda­mentale bio­lo­gische Prozesse.

Abb.: Trans­missions­elek­tronen­mikro­skopische Auf­nahme eines Bak­te­ri­ums mit Fla­gellen. (Bild: PHIL)

„Bewegung in der Welt mikroskopisch kleiner Teilchen ist nicht unbe­dingt ein Anzeichen für ein thermo­dyna­misches Ungleich­gewicht, also für einen aktiv ange­triebenen Prozess, sondern sie kann auch durch thermisches Bombarde­ment mit Atomen oder Molekülen aus der Umgebung zustande kommen“, sagt Broederzs. Teilchen diffun­dieren auf­grund ihrer Wärme­bewegung durch den Raum, kolli­dieren dabei ständig mit anderen Teilchen und stoßen sie zufällig in ver­schiedene Richtungen. Viele in Wirk­lich­keit aktive Prozesse in Zellen wiederum erwecken auf den ersten Anschein den Ein­druck, zufällige Schwan­kungen zu sein. „Um die Zell­funktionen zu verstehen, ist es wichtig, beides von­ein­ander unter­scheiden zu können“, so Broedersz.

Die neue Methode der Forscher basiert auf dem Prinzip des detail­lierten Gleich­gewichts. Es besagt, dass es für jeden Prozess einen genauso wahr­schein­lichen Rück­prozess gibt. Vor- und Rück­wärts­bewegung etwa heben sich demnach insge­samt in etwa auf. Trifft das nicht zu, ist das System im Ungleich­gewicht, also aktiv ange­trieben. „Unsere Methode basiert auf mikro­skopischen Video­auf­nahmen, mit denen Bewegungen aufgenommen und darauf analy­siert werden können, ob ein detail­liertes Gleich­gewicht vorliegt oder nicht“, sagt Broedersz.

Für ihre Studie analysierten die Wissenschaftler die Bewegungs­muster von Flagellen einer Grün­alge und von Flimmer­härchen von Epithel­zellen. Flagellen und Flimmer­härchen sind ähnlich aufge­baut, erfüllen aber verschiedene Funktionen: Die Flagellen treiben beim Schwimmen an, während Flimmer­härchen haupt­sächlich als bewegliche Fühler dienen. „Mithilfe unserer Auf­nahmen konnten wir zeigen, dass sich sowohl die Flagellen als auch die Flimmer­härchen nicht einfach vor und zurück bewegen“, sagt Broedersz. „Statt­dessen führen sie einen ganzen Zyklus verschie­dener Bewegungen durch, die aktiv ange­trieben sind – und verletzen damit das Prinzip des detail­lierten Gleich­gewichts.“

Wichtig für die Wissenschaftler war, dass sich die Bewegungen ihrer Versuchs­systeme unter­scheiden: Flagellen schlagen periodisch, es gibt nur wenig zufällige Varia­bilität dabei. Flimmer­härchen dagegen zeigen sehr viel mehr Unregel­mäßig­keiten in ihrer Bewegung. Trotz­dem konnten sie für beide Systeme eine Verletzung des detail­lierten Gleich­gewichts nach­weisen. „Unsere Arbeit ist nicht nur für die Biologie inte­ressant, um Nicht­gleich­gewichte in bio­lo­gischen Systemen zu erkennen und so einen tieferen Einblick in die komplexen Prozesse des Lebens zu bekommen“, ist Broedersz über­zeugt, „sondern sie wird auch in der statis­tischen Mechanik und der Bio­physik große Beachtung finden, da sie grund­legende Fragen auf­greift, wie sich mole­kulare Nicht­gleich­gewichts­prozesse mani­festieren.“

LMU / RK

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