Thermodynamik und Zellfunktionen
Prinzip des detaillierten Gleichgewichts identifiziert Lebensprozesse.
Welche physikalischen Eigenschaften unterscheiden lebendige Organismen von toter Materie? Diese Frage fasziniert Wissenschaftler seit jeher. Als ein grundsätzliches Schlüsselmerkmal für lebende Systeme gilt, dass sie sich nicht im thermodynamischen Gleichgewicht befinden: Lebende Systeme wenden kontinuierlich Energie auf, etwa um Bewegung aus eigener Kraft möglich zu machen. Chase Broedersz von der Uni München hat nun in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern der Unis Göttingen und Amsterdam, sowie dem MIT und der Yale University eine Methode entwickelt, mit der sich unterscheiden lässt, welche Bewegungsabläufe in lebenden Zellen aktiv angetrieben werden und welche passiv durch Diffusion entstehen. Das ermöglicht einen tieferen Einblick in fundamentale biologische Prozesse.
Abb.: Transmissionselektronenmikroskopische Aufnahme eines Bakteriums mit Flagellen. (Bild: PHIL)
„Bewegung in der Welt mikroskopisch kleiner Teilchen ist nicht unbedingt ein Anzeichen für ein thermodynamisches Ungleichgewicht, also für einen aktiv angetriebenen Prozess, sondern sie kann auch durch thermisches Bombardement mit Atomen oder Molekülen aus der Umgebung zustande kommen“, sagt Broederzs. Teilchen diffundieren aufgrund ihrer Wärmebewegung durch den Raum, kollidieren dabei ständig mit anderen Teilchen und stoßen sie zufällig in verschiedene Richtungen. Viele in Wirklichkeit aktive Prozesse in Zellen wiederum erwecken auf den ersten Anschein den Eindruck, zufällige Schwankungen zu sein. „Um die Zellfunktionen zu verstehen, ist es wichtig, beides voneinander unterscheiden zu können“, so Broedersz.
Die neue Methode der Forscher basiert auf dem Prinzip des detaillierten Gleichgewichts. Es besagt, dass es für jeden Prozess einen genauso wahrscheinlichen Rückprozess gibt. Vor- und Rückwärtsbewegung etwa heben sich demnach insgesamt in etwa auf. Trifft das nicht zu, ist das System im Ungleichgewicht, also aktiv angetrieben. „Unsere Methode basiert auf mikroskopischen Videoaufnahmen, mit denen Bewegungen aufgenommen und darauf analysiert werden können, ob ein detailliertes Gleichgewicht vorliegt oder nicht“, sagt Broedersz.
Für ihre Studie analysierten die Wissenschaftler die Bewegungsmuster von Flagellen einer Grünalge und von Flimmerhärchen von Epithelzellen. Flagellen und Flimmerhärchen sind ähnlich aufgebaut, erfüllen aber verschiedene Funktionen: Die Flagellen treiben beim Schwimmen an, während Flimmerhärchen hauptsächlich als bewegliche Fühler dienen. „Mithilfe unserer Aufnahmen konnten wir zeigen, dass sich sowohl die Flagellen als auch die Flimmerhärchen nicht einfach vor und zurück bewegen“, sagt Broedersz. „Stattdessen führen sie einen ganzen Zyklus verschiedener Bewegungen durch, die aktiv angetrieben sind – und verletzen damit das Prinzip des detaillierten Gleichgewichts.“
Wichtig für die Wissenschaftler war, dass sich die Bewegungen ihrer Versuchssysteme unterscheiden: Flagellen schlagen periodisch, es gibt nur wenig zufällige Variabilität dabei. Flimmerhärchen dagegen zeigen sehr viel mehr Unregelmäßigkeiten in ihrer Bewegung. Trotzdem konnten sie für beide Systeme eine Verletzung des detaillierten Gleichgewichts nachweisen. „Unsere Arbeit ist nicht nur für die Biologie interessant, um Nichtgleichgewichte in biologischen Systemen zu erkennen und so einen tieferen Einblick in die komplexen Prozesse des Lebens zu bekommen“, ist Broedersz überzeugt, „sondern sie wird auch in der statistischen Mechanik und der Biophysik große Beachtung finden, da sie grundlegende Fragen aufgreift, wie sich molekulare Nichtgleichgewichtsprozesse manifestieren.“
LMU / RK