Tonband im Synchrotron
Röntgenlicht kann historische Tonbänder zerstörungsfrei digitalisieren.
Magnettonbänder sind mittlerweile fast gänzlich aus unserem Leben verschwunden und genießen nur noch ein nostalgisches Nischendasein. In den Archiven der Tonstudios, Radio- und TV-Sendern, Museen und privaten Kollektionen weltweit lagern jedoch noch immer große Mengen solcher analoger Datenträger. Die Digitalisierung dieser Bestände ist eine ständige Herausforderung sowie auch ein Wettlauf gegen die Zeit, denn die Tonbänder zerfallen und sind irgendwann nicht mehr abspielbar.
Sebastian Gliga, Physiker am PSI und Spezialist für Nanomagnetismus, entwickelt mit seinem Team eine Methode, mit der sich historische und beschädigte Tonbänder mithilfe von Röntgenlicht zerstörungsfrei und in höchster Qualität digitalisieren lassen. Dafür arbeiteten sie mit der Schweizer Nationalphonothek zusammen, die maßgeschneiderte Referenzaufnahmen produziert und ihr tontechnisches Know-how zur Verfügung gestellt hat. In einer Partnerschaft mit dem Montreux Jazz Digital Project soll die Methode nun weiterentwickelt und getestet werden. Die Vertragsunterzeichnung fand bereits statt.
Die verbliebenen Mitglieder der legendären Rockband Queen standen kürzlich vor einer großen Herausforderung. In ihrem Studio fanden die Musiker ein Tonband von 1988. Darauf zu hören war ein Song mit der Stimme ihres 1991 verstorbenen Sängers Freddie Mercury. Allerdings war das Band stark beschädigt. Zuerst glaubte niemand daran, dieses besondere Stück retten zu können. Mit großem Aufwand schafften es die Soundingenieure dennoch. „Es ist, als würde man Teile zusammennähen“, ließ sich der Gitarrist Brian May von der BBC zitieren. Am 13. Oktober 2022 wurde der Song „Face It Alone“ schließlich veröffentlicht und stürmte über dreißig Jahre nach seinem Entstehen die weltweiten Charts.
„Das Beispiel zeigt: Tonbänder sind nicht für die Ewigkeit geschaffen“, erklärt Gliga. „Das Material zerfällt mit der Zeit und lässt sich nicht mehr abspielen.“ Während es zwar möglich ist, Bänder aufwendig zusammenzusetzen und zu restaurieren, verfolgen Gliga und sein Team einen völlig neuartigen Ansatz. Sie verwenden Synchrotronstrahlung: „Mit Röntgenlicht aus einem Synchrotron können wir auch stark beschädigte Tonbandfragmente rekonstruieren, ohne sie auch nur zu berühren.“
Auf Gligas Labortisch liegt momentan ein einmaliger Konzertmitschnitt des legendären Bluesgitarristen B.B. King. 1980 spielte der „King of the Blues“ sein zweites Konzert am Montreux Jazzfestival – ein 48-minütiges Spektakel, das vom Schweizer Toningenieur Philippe Zumbrunn auf Band festgehalten wurde. Heute lassen sich jedoch nur gerade mal zehn Sekunden dieses einmaligen Zeitzeugnisses abspielen. Die chemische Zusammensetzung des Tonbandes ist bereits so weit zerfallen, dass jede Wiedergabe in einem herkömmlichen Abspielgerät das Band nur noch weiter zerstört.
„Wir interessierten uns für die Aufnahme von B.B. King nicht nur wegen ihres musikalischen Inhalts, sondern auch wegen der Herausforderung, die der Zustand ihres Verfalls mit sich bringt“, schmunzelt Gliga. „Mit Synchrotronstrahlung können wir die Grenzen von herkömmlichen Restaurierungsmethoden überwinden.“
Tonbänder speichern Information in einer Schicht winziger magnetischer Teilchen – ähnlich kleiner Kompassnadeln, die entweder gen Norden oder Süden zeigen. Wird das Band bespielt, so verändert sich deren magnetische Ausrichtung – das Band wird magnetisiert und die Audio-Information ist nun im Ausrichtungsmuster physisch gespeichert. Um dieses Muster wieder abzuspielen, bewegt man es an einem Lesekopf vorbei. Da sich das Magnetfeld durch die Ausrichtung der Kompassnadeln ständig ändert, wird im Lesekopf eine Spannung induziert und es entsteht ein elektrisches Signal. Dieses wird wiederum verstärkt und in ein akustisches Signal umgewandelt.
Mit seiner Röntgenmethode setzt Gliga nicht auf das Magnetfeld, sondern auf die einzelnen Kompassnadeln, die dieses Feld erzeugen. „Die Magnetisierungszustände dieser winzigen Teilchen, deren Größenordnung weniger als ein Zehntel des Durchmessers eines menschlichen Haares beträgt, lassen sich mit Röntgenlicht der SLS fast individuell auslesen und in ein hochwertiges Audiosignal umwandeln.“
„Digitalisierung ist ein kontinuierlicher Prozess“, erklärt der Physiker. Wichtig dabei ist die Abtastrate. Die kontinuierliche Schallwelle wird in Segmente mit einem bestimmten Zeitintervall unterteilt und digital gespeichert. Eine höhere Abtastrate bedeutet eine höhere Auflösung in der Digitalisierung des ursprünglichen Signals. Da sich mit dem Synchrotronlicht fast jede einzelne magnetische Kompassnadel auf dem Tonband messen lässt, kann man damit nie da gewesene Auflösung erzielen. „Wir erreichen damit so etwas wie die bestmögliche Kopie“, so Gliga.
Vieles in der Audiowelt ist Physik und lässt sich in Formeln und Zahlen wiedergeben. Wenn es jedoch um Begriffe wie Klang und die erzeugte Qualität geht, steht das subjektive Hörerlebnis im Vordergrund. Deshalb arbeitet Gliga mit Experten wie dem Basler Toningenieur und Komponisten Daniel Dettwiler zusammen. Dettwiler ist bekannt für analoge Musikbearbeitung. Aus seinem Studio stammt auch eineStuder A80, eine Bandmaschine mit der Magnettonbänder aufgenommen und abgespielt werden können.
„Was wir mit Röntgenstrahlen rekonstruieren, ist das reine Audiosignal, wie es auf dem Band gespeichert ist“, erklärt Gliga. Spielt man dasselbe Band jedoch auf dem Studer ab, erhält man ein leicht verändertes Signal. „Das liegt an der Elektronik im Gerät, die den Klang zusätzlich verarbeitet und manipuliert.“ Gliga und sein Team nutzen deshalb das analoge Gerät aus den Siebzigern, um die am Synchrotron extrahierten Töne mit den konventionell digitalisierten Stücken zu vergleichen.
Momentan bleibt das Synchrotronlicht jedoch aus – es herrscht „Dark Time“ an der SLS. Bis Anfangs 2025 wird die Grossforschungsanlage einem umfassenden Upgrade unterzogen. Damit soll die Brillanz des Synchrotronstrahls um einen Faktor 40 verbessert werden. „Unsere Methode wird vom Upgrade stark profitieren und noch effizientere Messungen ermöglichen“, erklärt der Physiker.
Unterstützt wird Gligas Projekt durch das Förderprogramm BRIDGE des Schweizerischen Nationalfonds SNF und der Schweizerischen Agentur für Innovationsförderung Innosuisse sowie durch die UBS-Kulturstiftung, die die Digitalisierung der B.B.-King-Aufnahme fördert. Außerdem erhält Gliga Unterstützung durch das PSI Founder Fellowship, ein Programm, das wissenschaftsbasierte Innovationen fördert.
PSI / DE