09.07.2004

Umkristallisierung als Movie

Wie sich ein deformiertes Metallstück im Innern umkristallisiert, konnte man jetzt erstmals mit Röntgenstrahlen "filmen".




Die physikalischen Eigenschaften eines Materials hängen entscheidend von seiner Mikrostruktur ab. So beeinflusst die Größe der Mikrokristalle, aus denen ein Supraleiter zusammengesetzt ist, seine kritische Stromdichte. Korngrenzen und Störstellen in einem Magneten erschweren die Bewegung von Domänengrenzen und machen den Magneten „hart“. Und Metalle lassen sich umso schwerer verformen, je kleiner die Korngröße ist.

Man kann einem Material umso eher eine gewünschte Eigenschaft geben, je besser man seine Mikrostruktur unter Kontrolle hat. Dazu muss man die Veränderungen der Mikrostruktur möglichst genau beobachten. Dies hatten vor zwei Jahren dänische und niederländische Forscher getan, als sie Entstehung und Wachstum von Mikrokristalliten im Innern einer Metallprobe untersuchten, die eine Phasenumwandlung durchlief. Dazu benutzten sie den extrem intensiven Röntgenstrahl der Europäischen Synchrotron-Strahlungsquelle (ESRF) in Grenoble. Jetzt haben die dänischen Forscher das Verfahren so weiterentwickelt, dass sie das Wachstum einzelner Kristallite im Probeninnern mit Mikrometerauflösung filmen können.

Søren Schmidt und seine Kollegen vom Risø Nationallaboratorium in Roskilde haben für ihre Experimente Aluminium von handelsüblicher Reinheit benutzt, das geringfügig mit eisenhaltigen Partikeln verunreinigt war. Das polykristalline Aluminium schmolzen sie und ließen es zu einem Einkristall erstarren, den sie anschließend auf 1 mm Dicke auswalzten. Aus diesem Aluminiumblech schnitten sie unterschiedlich zur Walzrichtung orientierte Proben.

Durch das Auswalzen war das Kristallgefüge des Aluminiums stark deformiert und gestört worden: Es hatten sich zahllose Versetzungen gebildet. Die Forscher wollten nun wissen, wie sich die gestörten Aluminiumproben beim Ausglühen umkristallisieren und wie in ihnen Kristallite entstehen und wachsen. Dazu haben sie mit einer harten Spitze in jede der Proben einen Eindruck gemacht, der als Nukleationskeim für die Kristallitbildung diente. Dann wurde die Probe für etwa 30 Stunden in einem Glühofen auf knapp 300 °C gehalten. Während dieser Zeit war sie einem Röntgenstrahl der ESRF ausgesetzt, der einen 600 μm breiten und 6 μm hohen rechteckigen Querschnitt hatte.

Der von den zahllosen Kristalliten in der Probe gebeugte Röntgenstrahl wurde nach 10 mm Flugstrecke von einem CCD-Detektor aufgefangen und das Signal anschließend ausgewertet. Um mit dem mikrometerdünnen Röntgenstrahl die ganze Probe auszuleuchten, wurde sie in kleinen Schritten auf und ab bewegt. Außerdem wurde sie um eine Achse senkrecht zum Strahl hin und her gedreht, damit unterschiedlich orientierte Kristallite die Bragg-Bedingung erfüllen und zum Beugungsmuster beitragen konnten. Anhand der aufgezeichneten Beugungsmuster ließ sich das Wachstum eines Kristalliten verfolgen, der unter der Eindruckstelle entstanden war.

In einem Film mit insgesamt 73 Bildern, von denen jedes in 7,5 Minuten aufgenommen wurde, haben die Forscher die Entwicklung des Kristallits dokumentiert. Die räumliche Auflösung der Einzelbilder betrug etwa 5 μm. Der Kristallit wuchs zunächst nahezu kugelförmig heran. Doch schon nach kurzer Zeit entwickelte er eine sehr unregelmäßige Form. Dabei dehnte sich seine Oberfläche ruckartig aus: Die einzelnen Oberflächensegmente des Kristallits bewegten sich bei der Umkristallisierung abrupt und nicht stetig, wie man das bisher angenommen hatte. Diese Resultate ähneln denen, die man bei Oberflächenuntersuchungen mit Elektronenstrahlen gewonnen hatte. Allerdings stellt sich bei dieser Untersuchungsmethode die Frage, inwieweit die oberflächennahen Vorgänge tatsächlich der Umkristallisierung im Innern einer Probe entsprechen.

Für das unregelmäßige und abrupte Wachstum der Kristallite ist die inhomogene Verteilung von Versetzungen im deformierten Gefüge der Aluminiumatome verantwortlich. Die Oberfläche eines Kristallits dehnt sich dabei in unterschiedlichen Richtungen unterschiedlich schnell aus und bleibt bisweilen sogar an einer Versetzung hängen. Das Hängenbleiben an lokalen Störstellen wie etwa Fremdatomen spielt nach Meinung der Forscher hingegen nur eine untergeordnete Rolle.

Jetzt, da die Experimentatoren die Umkristallisierung im Innern einer Metallprobe so genau verfolgen können, sind die Theoretiker am Zuge. Bisher gibt es nämlich noch keine Berechnungen oder Simulationen, die man anhand der experimentellen Resultate überprüfen könnte. Doch auch für die Experimentatoren bleibt noch viel zu tun. Mit dem neuen Verfahren können sie detailliert und zeitaufgelöst untersuchen, wie sich Mikrostrukturen beim Erstarren von Schmelzen oder bei Umwandlungen von einer festen Phase in eine andere bilden.

Rainer Scharf

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