Ungemütliche Kristallgitter
Ausgeklügelte Synthese verleiht Oxid-Legierungen überraschende Eigenschaften.
Unter einer Legierung versteht man üblicherweise eine Mischung aus mehreren Metallen. Aber auch andere Materialien lassen sich legieren. In der Halbleiterindustrie werden etwa Oxid- und Nitrid-Legierungen seit langem erfolgreich eingesetzt, um Materialeigenschaften gezielt zu verändern. Meist sind die Eigenschaften der Ausgangsstoffe noch gut erkennbar. Mischt man allerdings Verbindungen, deren Kristallstrukturen überhaupt nicht zusammenpassen, entstehen Heterostruktur-Legierungen. In diesen Legierungen ändert sich die Struktur abhängig vom Mischungsverhältnis der Komponenten. Dies führt bisweilen zu überraschenden Eigenschaften, die sich deutlich von denen der Ausgangsstoffe unterscheiden. Genau solche Oxid-Legierungen interessieren den Empa-Forscher Sebastian Siol. Bei der Suche nach dem gewünschten Material behält er Aspekte wie Struktur, die elektronischen Eigenschaften und die Langzeitstabilität im Auge.
Abb.: Eine Probe einer Oxid-Legierung auf Glas: Solche Heterostruktur-Legierungen könnten sich für intelligente Fensterbeschichtungen eignen. (Bild: Empa)
Siol hatte zusammen mit seinen Kollegen Manganselenid und Mangantellurid im Kalt-Dampf-Verfahren (Magnetronsputtering) vermischt. Die Ausgangsstoffe hatten sich bei bestimmten Mischungsverhältnissen in einem für beide Komponenten „ungemütlichen“ Kristallgitter vereinigt. Keiner der Partner konnte dem anderen seine Lieblings-Kristallstruktur aufzwingen, die er im reinen Zustand bevorzugt. Der entstandene Kompromiss war eine neue Phase, die normalerweise nur bei negativem Druck entstehen würde – also dann, wenn das Material permanent unter Zug gesetzt wird. Solche Materialien sind unter normalen Bedingungen sehr schwer herzustellen. Siol und seine Kollegen am NREL haben es geschafft, diese Schwierigkeit zu umgehen. Das neue, nun zugängliche Material, zeigt viele nützliche Eigenschaften, es ist unter anderem piezoelektrisch. Man kann also damit Strom erzeugen, Detektoren herstellen oder Halbleiterexperimente durchführen, die mit den Ausgangsstoffen nicht möglich wären.
Nun möchte Siol Oxidgemische mit veränderlicher Struktur entdecken und so weit stabilisieren, dass sie alltagstauglich werden. Im Fokus stehen zunächst Mischoxide aus Titan- und Wolframoxid, die zum Beispiel für die Beschichtung von Fenstern, für die Halbleitertechnik oder Sensorik interessant sein könnten. Siols Kollegin Claudia Cancellieri erforscht bereits seit einigen Jahren die elektronischen Eigenschaften von Oxid-Grenzflächen und bringt ihre Erfahrungen in die gemeinsamen Forschungsprojekte ein. „Die Materialkombination ist extrem spannend“, so Siol.
Titanoxide sind äußerst stabil, sie werden in Solarzellen, in Wandfarben und in Zahnpasta verwendet. Wolframoxide sind dagegen vergleichsweise instabil und werden für tönbare Fenster, Gassensoren oder als Katalysatoren in der Petrochemie eingesetzt. „In der Vergangenheit lag der Forschungsfokus oft ausschließlich auf der Optimierung der Materialeigenschaften“, sagt Siol. „Entscheidend ist allerdings auch, ob man das Material über mehrere Jahre lang in dem jeweiligen Anwendungsgebiet einsetzen kann.“ Das wäre zum Beispiel für Halbleiter-Schichtsysteme wie in elektrochromen Fenstern wichtig, die in aggressiven Umgebungen unter Einwirkung von Sonnenlicht und Temperaturschwankungen Jahrzehnte lang halten müssen.
Zur Herstellung dieser Oxidphasen wenden Siol und seine Kollegen verschiedene industriell skalierbare Verfahren an. Zum einen die kontrollierte Oxidation dünner Metallschichten in einem Ofen oder in elektrolytischer Lösung. Aber auch reaktives Sputtern kommt zum Einsatz, wobei die Metalle unmittelbar bei der Abscheidung oxidiert werden. „Unmögliche“ Oxid-Legierungen, bisher ein Thema der Grundlagenforschung, werden damit langsam für Industrieanwendungen greifbar.
Empa / JOL