07.08.2020

Verblüffende Mechanik der DNA-Moleküle

Atomare Modelle der theoretischen Physik offenbaren interatomare Kräfte und Abstände im Molekül.

Wenn große Kräfte auf einen Balken einwirken, etwa im Brückenbau, dann wird sich der Balken ein bisschen verformen. Die Zusammenhänge zwischen Kräften, inneren Spannungen und Verformungen zu berechnen, gehört zu den Standard­aufgaben im Bau­ingenieur­wesen. Aber was passiert, wenn man diese Überlegungen auf winzige Objekte anwendet – etwa auf eine einzelne DNA-Doppelhelix? Experimente mit DNA-Molekülen zeigen, dass sie völlig andere mechanische Eigen­schaften haben als makro­skopische Objekte – und das hat wichtige Konsequenzen für die Biologie und die Medizin. An der TU Wien gelang es nun, diese Eigen­schaften genau zu erklären, durch eine Kombination von Ideen aus dem Bauingenieur­wesen und der Physik.

Abb.: Johannes Kalliauer und Kollegen analysieren die mecha­nischen...
Abb.: Johannes Kalliauer und Kollegen analysieren die mecha­nischen Eigen­schaften von DNA-Molekülen durch eine Kombi­nation von Ideen aus dem Bau­ingenieur­wesen und der Physik. (Bild: TU Wien)­

Auf den ersten Blick könnte man die DNA-Doppelhelix für eine winzig kleine Feder halten, die man einfach dehnen und stauchen kann, wie man das auch von gewöhnlichen Sprungfedern kennt. Doch ganz so einfach ist die Sache nicht: „Wenn man ein DNA-Stück langzieht, würde man eigentlich erwarten, dass dabei die Zahl der Windungen abnimmt. Doch in bestimmten Fällen ist das Gegenteil der Fall: Wenn die Helix länger wird, dreht sie sich manchmal noch mehr ein“, sagt der Bau­ingenieur Johannes Kalliauer vom Institut für Mechanik der Werkstoffe und Strukturen der TU Wien. „Außerdem sind DNA-Moleküle viel dehnbarer als die Materialien, mit denen wir im Bauingenieur­wesen sonst zu tun haben: Sie können unter Zugspannung um siebzig Prozent länger werden.“

Für Biologie und Medizin sind diese seltsamen mechanischen Eigen­schaften der DNA von großer Bedeutung: „Wenn die Erb­information vom DNA-Molekül abgelesen wird, kann es von den Details der Geometrie abhängen, ob es zu einem Lesefehler kommt, der im schlimmsten Fall sogar Krebs auslösen kann“, sagt Kalliauer. „Bisher musste man sich in der Molekular­biologie mit empirischen Methoden zufrieden­geben, um den Zusammenhang zwischen Kräften und Geometrie der DNA zu erklären.“ In seiner Dissertation ging Johannes Kalliauer dieser Sache auf den Grund – und zwar in Form einer eher ungewöhnlichen Fächerkombination: Seine Arbeit wurde einerseits vom Bau­ingenieur Christian Hellmich betreut, andererseits auch von Gerhard Kahl vom Institut für Theo­retische Physik.

„Wir verwendeten Methoden der Molekular­dynamik, um das DNA-Molekül am Computer auf atomarer Skala nachzubilden“, erklärt Kalliauer. „Man legt fest, wie die DNA-Helices gestaucht, gedehnt oder verdreht werden – und dann ermittelt man, welche Kräfte auftreten, und in welche Endposition die Atome schließlich gelangen.“ Solche Rechnungen sind sehr aufwändig und nur mit Hilfe großer Super­computer möglich – Johannes Kalliauer verwendete dafür den Vienna Scientific Cluster (VSC). So konnte man die merkwürdigen experimentellen Befunde erklären – etwa das kontra­intuitive Ergebnis, dass sich die DNA in bestimmten Fällen bei Dehnung noch mehr eindreht. „Auf großer Skala kann man sich das schwer vorstellen, aber auf Ebene der Atome ergibt das plötzlich Sinn“, sagt Kalliauer.

Im Rahmen der atomaren Modelle der theo­retischen Physik kann man inter­atomare Kräfte und Abstände ermitteln. Mit bestimmten Regeln, die das Team basierend auf Prinzipien aus dem Bauingenieur­wesen entwickelte, kann man daraus dann die relevanten Kraftgrößen ermitteln, die man benötigt, um den DNA-Strang als Ganzes zu beschreiben – ähnlich wie man die Statik eines Balkens im Bauingenieur­wesen mithilfe einiger wichtiger Querschnitts­eigenschaften beschreiben kann. „Wir bewegen uns hier in einer interessante Zwischenwelt, zwischen dem Mikro­skopischen und dem Makro­skopischen“, sagt Kalliauer. „Das Besondere an diesem Forschungs­projekt ist, dass man wirklich beide Sichtweisen benötigt und sie miteinander verbinden muss.“

Diese Kombination deutlich unters­chiedlicher Größen­skalen spielt am Institut für Mechanik der Werkstoffe und Strukturen immer wieder eine zentrale Rolle. Schließlich werden die Material­eigenschaften, die wir täglich im großen Maßstab spüren, immer vom Verhalten auf der Mikroebene bestimmt. Die aktuelle Arbeit soll einerseits zeigen, wie man das Große und das Kleine auf wissen­schaftlich exakte Weise miteinander verbinden kann, und anderer­seits helfen, das Verhalten der DNA besser zu verstehen – bis hin zur Erklärung von Erb­krankheiten.

TU Wien / JOL

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