Die Attosekundenforschung ist ein neues Forschungsgebiet der Physik mit dem Ziel, die Bewegung von Elektronen in Atomen, Molekülen und Festkörpern zeitaufgelöst zu vermessen. Elektronendynamik entsteht durch kohärente Anregung verschiedener elektronischer Zustände und kann mit Zeitskalen im Bereich von Attosekunden extrem schnell sein. Chemie hingegen ist das Aufbrechen und die Neuformation von elektronischen Bindungen, bedingt durch die räumliche Umlagerung von atomaren oder molekularen Reaktionspartnern. Solche chemische Dynamik spielt sich auf der langsameren Femtosekundenskala ab.
Abb.: Die XUV-Absorption aus einer kernnahen Schale in die Vakanzen in der Valenzschale ist elementspezifisch und abhängig von der lokalen chemischen Umgebung um das Reporteratom.
Nichtsdestotrotz gibt es spannende Wege, auf denen die zeitaufgelöste Erforschung chemischer Reaktionen stark von den technologischen Entwicklungen in der Attosekundenphysik profitieren kann. Attosekundenpulse generiert man durch die Erzeugung hoher Harmonischer, durch die Photonen aus dem infraroten Spektralbereich in einer stark nicht-linearen Wechselwirkung mit Materie in den Frequenzbereich des extremen Ultravioletts (XUV) konvertiert werden. Die kurze zeitliche Dauer solcher Attosekundenpulse bedingt ein breites, kontinuierliches Frequenzspektrum, ideal geeignet für Absorptionsexperimente. Die erreichten Photonenenergien decken den Energiebereich bis zu hunderten von Elektronenvolt ab, mit denen sich Elektronen in den kernnahen Schalen von Atomen anregen lassen.
Übergänge von gebundenen Elektronen aus kernnahen Schalen in die Valenzschale bieten einzigartige Einblicke in die Struktur und Dynamik von Molekülen. Aufgrund der starken Lokalisierung der Kernschalen sind diese Übergänge elementspezifisch. Gleichzeitig ist in ihnen aber auch die intramolekulare Umgebung des jeweiligen Atoms kodiert, da das Elektron in eine Vakanz in der Valenzschale gehoben wird, die von den chemischen Bindungen des Atoms im Molekül abhängt. Wichtig ist nun, dass solche Kern-Valenzschalenübergänge nur sehr kurze Lebensdauern im Bereich weniger Femtosekunden haben. Die Anwendung ultrakurzer XUV-Pulse bietet daher neue Ansätze für zeitaufgelöste chemische Studien: Chemische Dynamik, etwa mit einem ultravioletten Laserpuls angestoßen, lässt sich aus der Perspektive verschiedener Atome innerhalb eines Moleküls in einem transienten XUV-Absorptionsexperiment untersuchen. Diese neue Art von chemischen Studien erproben im Moment weltweit nur einige wenige Arbeitsgruppen.
In einem neuen, am Max-Born-Institut Berlin durchgeführten Experiment haben Forscher die Photodissoziation von Iodmethan (CHI) und Iodbenzol (CHI) mittels transienter XUV-Absorptionsspektroskopie untersucht. Diese beiden Moleküle unterscheiden sich durch den Bindungspartner des Iodatoms; in einem Falle ist dies eine Methylgruppe (CH), im anderen Falle eine Phenylgruppe mit dem charakteristischen Kohlenstoffring (CH). Absorption eines UV-Femtosekundenpulses führt zum Brechen der Bindung zwischen dem Iod- und dem benachbarten Kohlenstoffatom und damit zur Erzeugung von atomarem Iod. Dies untersuchten die Forscher anhand der Absorption an der N,-Kante des Iodatoms. In beiden Molekülen verschwinden die molekularen Kern-Valenzschalenübergänge bei UV-Absorption innerhalb der experimentellen Zeitauflösung. Die zum atomaren Iod hin konvergierenden Übergänge erscheinen unverzüglich im Falle von CHI, jedoch zeitverzögert im Falle von CHI. Im Falle von CHI interpretierten die Forscher diese Beobachtung als die UV-Erzeugung einer Vakanz in der Valenzschale, die in der Nähe des Iodatoms lokalisiert ist.
Damit ergibt sich eine hohe Wahrscheinlichkeit für einen XUV-Übergang aus dem Kernzustand des Iodatoms. Das Experiment zeigt, wie die Valenzschale während der Dissoziation des Moleküls relaxiert. Dabei wird eine kontinuierliche Verschiebung der Übergangsenergie der zum atomaren Iod hin konvergierenden Übergänge gemessen. In Falle von CHI hingegen weist das zeitverzögerte Erscheinen der Absorptionsübergänge auf eine UV-erzeugte Vakanz hin, die ursprünglich innerhalb des Moleküls räumlich entfernt vom Iod-Reporteratom lokalisiert ist. Damit ist die Wahrscheinlichkeit für einen Kern-Valenzschalenübergang gering. Die Vakanz muss zuerst durch das Molekül wandern, bevor man sie beobachten kann. Dieses Verhalten ist der dominanten π → σ* UV-Anregung in Iodbenzol zuzuschreiben, eine Folge des charakteristischen delokalisierten Elektronensystems im Kohlenstoffring.
Während in der neuen Studie die experimentellen Daten mittels eines einfachen Models erklärt sind, ermöglicht das MBI mit seiner neu gegründeten Abteilung für Theorie einzigartige Möglichkeiten für gemeinsame experimentelle und theoretische Untersuchungen von transienter XUV-Absorptionsspektroskopie photochemischer Prozesse. Dabei wird auch eine neue theoretische Herangehensweise zum Einsatz kommen, die jüngst Forscher des MBI in Kollaboration mit Kollegen in Kanada, dem Vereinten Königreich und der Schweiz entwickelt haben.
FVB / DE