18.10.2024

Was ist die Lebensdauer von Neutronen?

Jahrzehntelange Diskrepanz zwischen unterschiedlichen Messmethoden könnte an angeregten Neutronenzuständen liegen.

Neutronen gehören zu den Grundbausteinen der Materie. Im Atomkern können sie sich beliebig lange aufhalten, ganz ohne sich zu verändern. Anders sieht es allerdings bei freien Neutronen aus, die alleine herumfliegen, ohne Teil eines Atomkerns zu sein: Diese freien Neutronen zerfallen ganz von selbst – im Durchschnitt nach knapp einer Viertelstunde.


Abb.: Wie lange leben freie Neutronen? Es kommt darauf an, ob sie Teil eines...
Abb.: Wie lange leben freie Neutronen? Es kommt darauf an, ob sie Teil eines neu entstandenen Neutronenstrahls sind oder in einer Art „Flasche“ festgehalten werden.
Quelle: TU Wien, O. Diekmann

Seltsamerweise stößt man beim Messen dieser durchschnittlichen Lebensdauer freier Neutronen aber seit Jahrzehnten auf unterschiedliche, widersprüchliche Ergebnisse – je nachdem, ob man einen Neutronenstrahl analysiert, oder Neutronen misst, die in einer Art „Flasche“ festgehalten werden. Ein Forschungsteam der TU Wien schlägt nun eine mögliche Erklärung vor: Es könnte bisher unentdeckte angeregte Zustände des Neutrons geben. Das würde bedeuten: Manche Neutronen könnten sich in einem Zustand befinden, in dem sie etwas mehr Energie und eine etwas andere Lebensdauer haben. Damit ließen sich die Diskrepanzen erklären. Das Team hat auch bereits Ideen, wie man diese Neutronen-Zustände aufspüren könnte.

Ganz spontan können freie Neutronen, die nicht Teil eines Atomkerns sind, nach den Gesetzen der Quantentheorie zerfallen – und zwar in ein Proton, ein Elektron und ein Antineutrino. Die Frage nach der durchschnittlichen Lebensdauer freier Neutronen ist erstaunlich schwer zu beantworten. „Seit gut dreißig Jahren wundert man sich in der Physik über widersprüchliche Ergebnisse zu diesem Thema“, sagt Benjamin Koch vom Institut für Theoretische Physik der TU Wien. Er analysierte dieses Rätsel gemeinsam mit seinem Kollegen Felix Hummel. Auch mit dem Neutronen-Forschungsteam rund um Hartmut Abele vom Atominstitut der TU Wien arbeiten die beiden eng zusammen.

Oft verwendet man als Neutronenquelle einen Kernreaktor“, erklärt Benjamin Koch. „Beim radioaktiven Zerfall im Reaktor entstehen freie Neutronen. Diese freien Neutronen kann man dann in einen Neutronenstrahl leiten und dort genau vermessen.“ Man misst, wie viele Neutronen sich am Anfang des Neutronenstrahls befinden und wie viele Protonen durch Neutronen-Zerfälle erzeugt werden. Daraus kann man die durchschnittliche Lebensdauer der Neutronen im Strahl berechnen.

Man kann die Sache aber auch anders angehen und versuchen, Neutronen in einer Art „Flasche“ aufzubewahren, zum Beispiel mit Hilfe magnetischer Felder. „Dabei zeigt sich: Neutronen aus dem Neutronenstrahl leben ungefähr acht Sekunden länger als Neutronen in einer Flasche“, sagt Benjamin Koch. „Bei einer durchschnittlichen Lebensdauer von knapp 900 Sekunden ist das ein deutlicher Unterschied – viel zu groß, um ihn durch bloße Messungenauigkeit zu erklären.“

Benjamin Koch und Felix Hummel konnten nun allerdings zeigen: Die Diskrepanz lässt sich erklären, wenn man annimmt, dass Neutronen angeregte Zustände haben können – bisher unentdeckte Zustände mit einer geringfügig höheren Energie. Bei Atomen sind solche Zustände wohlbekannt, auf ihnen beruht etwa der Laser. „Bei Neutronen ist es viel schwieriger, solche Zustände exakt zu berechnen“, sagt Benjamin Koch. „Man kann aber abschätzen, welche Eigenschaften sie haben müssten, um die unterschiedlichen Werte für die Lebensdauer zu erklären.“

Die These der Forscher ist: Wenn die freien Neutronen aus radioaktivem Zerfall hervorgehen, dann befinden sie sich zunächst in einem Gemisch aus verschiedenen Zuständen: Manche von ihnen sind ganz gewöhnliche Neutronen im Grundzustand, manche von ihnen aber befinden sich in einem angeregten Zustand, mit etwas mehr Energie. Im Lauf der Zeit wechseln diese angeregten Neutronen aber nach und nach in den Grundzustand.

Man kann sich das so ähnlich vorstellen wie bei einem Schaumbad“, sagt Felix Hummel. „Wenn ich Energie zuführe und es durchsprudle, dann entsteht viel Schaum – man könnte sagen, ich habe das Schaumbad in einen angeregten Zustand versetzt. Wenn ich aber warte, platzen die Bläschen und es kehrt ganz von selbst in den Grundzustand zurück – genau wie die Neutronen.“

Wenn die These über die angeregten Neutronen-Zustände stimmt, dann würde das bedeuten: Im Neutronenstrahl frisch aus dem Reaktor wären tatsächlich verschiedene Neutronen-Zustände in relevantem Ausmaß vertreten. Die Neutronen in der Flasche hingegen wären fast ausschließlich gewöhnliche Grundzustand-Neutronen. Schließlich dauert es eine Weile, bis man die Neutronen abgekühlt und in einer Flasche eingefangen hat – bis dahin wären die allermeisten Neutronen längst in den Grundzustand übergegangen.

Laut unserem Modell hängt die Zerfallswahrscheinlichkeit eines Neutrons stark von seinem Zustand ab“, sagt Felix Hummel. Daraus ergeben sich logischerweise auch unterschiedliche durchschnittliche Lebensdauern für Neutronen im Neutronenstrahl und Neutronen in der Neutronen-Flasche.

Unser Rechenmodell zeigt den Parameterbereich, in dem man suchen muss“, sagt Benjamin Koch. „Die Lebensdauer des angeregten Zustands muss kürzer sein als 300 Sekunden, sonst kann man den Unterschied nicht erklären. Sie muss aber auch länger sein als fünf Millisekunden, sonst wären die Neutronen bereits wieder im Grundzustand, bevor sie das Strahlexperiment erreichen.“

Die Hypothese von bisher unentdeckten Neutronen-Zuständen lässt sich teilweise anhand von Daten vergangener Experimente testen. Diese Daten müssten dafür allerdings neu ausgewertet werden. Für einen überzeugenden Beweis werden aber noch weitere Experimente nötig sein. Solche Experimente werden nun geplant. Hierfür stehen die Forscher im engen Austausch mit Teams am Atominstitut der TU Wien die mit ihren Experimenten PERC und PERKEO gut für diese Aufgabe aufgestellt sind. Auch Forschungsgruppen aus der Schweiz und aus Los Alamos in den USA haben bereits Interesse gezeigt, ihre Messmethoden anzuwenden um die neue Hypothese zu testen. Technisch und konzeptionell steht den erforderlichen Messungen nichts im Weg. So wird sich zeigen, ob mit dem neuen Vorschlag tatsächlich ein jahrzehntealtes Problem der Physik endgültig gelöst wurde.

TU Wien / DE


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