14.04.2016

Was Tropfen stoppt

Modellrechnung zum Fließ­ver­halten im Nano­meter­bereich.

Das Bild kennt jeder: Ein Regentropfen fließt über die Fenster­scheibe. An einer bestimmten Stelle stoppt er seinen Lauf, ein zweiter Regen­tropfen rinnt hinzu und gemeinsam vereint fließen beide die Scheibe weiter hinab. Kleinste Uneben­heiten oder Ver­schmutzungen auf der Fenster­scheibe scheinen den Lauf der Regen­tropfen aufzu­halten. Wäre die Ober­fläche voll­kommen eben und chemisch rein, dann würden Regen­tropfen unge­hindert fließen. Ober­flächen­defekte, wie kleine Erhebungen, Vertiefungen oder auch chemische Verun­reinigungen halten den Flüssig­keits­tropfen auf.

Abb.: Das theoretische Modell in bild­licher Dar­stellung: Eine Flüssig­keits­front schiebt sich über eine Verun­reinigung (oben) oder eine Erhebung (unten). Die Flüssig­keit befindet sich zwischen zwei paral­lelen Ebenen, die nur einige Nano­meter von­ein­ander ent­fernt sind. (Bild: MPI IS)

Der Trend in Wissenschaft und Technik geht jedoch zu immer feiner struk­tu­rierten Fest­körper­ober­flächen, die für viel­fältige Anwen­dungen genutzt werden können. Typische Struktur­ab­messungen liegen hierbei im Mikro- oder sogar im Nano­meter­bereich. Wie wird nun aber das Fließ­ver­halten eines Tropfens durch derart feine Ober­flächen­strukturen beein­flusst? Und wie wird der Trans­port von winzigen Flüssig­keits­mengen auf extrem schmalen Bahnen durch darauf befind­liche winzige Ober­flächen­defekte behindert? Die frag­lichen Ober­flächen­defekte sind dann nicht mehr viel größer als die Moleküle oder Atome, welche die Flüssig­keit oder die Fest­körper­ober­fläche auf­bauen.

Selbst mit modernsten experimentellen Methoden ist es nicht möglich, den Flüssig­keits­trans­port über derart kleine Ober­flächen­defekte zu beob­achten und zu unter­suchen. Doch theore­tische Methoden und Modell­rechnungen über­winden diese Heraus­forderungen. Die Forschungs­abteilung „Theorie inhomo­gener konden­sierter Materie“ unter Leitung von Siegfried Dietrich am MPI für Intelli­gente Systeme in Stutt­gart hat ein Modell entwickelt und numerisch analy­siert, welches die auf der Nano­meter­skala rele­vante mole­kulare Struktur einbe­zieht. Mit diesem theore­tischen Modell kann der Wider­stand, den wenige Nano­meter kleine Uneben­heiten oder Verun­reinigungen dem Flüssig­keits­trans­port ent­gegen­setzen, berechnet werden.

Das Computerprogramm dafür hat Lothar Schimmele über mehrere Jahre hinweg entwickelt. Alberto Giacomello hat es anläss­lich dieser Arbeit zusätz­lich mit einem neu­artigen Algo­rithmus kombiniert. Das Programm ermöglicht zu berechnen, wie sich Flüssig­keiten unter dem Einfluss äußerer Kräfte, die beispiels­weise durch begrenzende Wände entstehen, verhalten. Für ihre Unter­suchungen haben Giacomello und Schimmele ein einfaches Modell gewählt: zwei ebene Wände, die parallel zueinander stehen und einen Kanal von wenigen Nano­metern Durch­messer bilden. Auf der unteren Wand dieses engen Kanals trifft die Flüssig­keit auf ein Hindernis, etwa eine Ver­schmutzung oder eine Uneben­heit. Die an diesem einfachen System gewonnenen Ergebnisse lassen sich dann mit Hilfe theore­tischer Über­legungen auf andere Geo­metrien über­tragen.

„Bisher ist die Fachwelt davon ausgegangen, dass ein Hindernis, das kleiner als ein Nano­meter ist, zu schwach sei, um eine Flüssig­keit aufzu­halten. Dies konnten wir mit unseren Berech­nungen wider­legen“, erklärt Schimmele. Die Ergeb­nisse der Unter­suchungen können auch zur Erklärung eines weiteren Phänomens heran­ge­zogen werden. Winzige Gas­bläschen, die sich beispiels­weise bei der Katalyse oder Elektro­lyse an Ober­flächen bilden, haben oft eine uner­wartet lange Lebens­dauer. Diese Gas­bläschen verringern jedoch die Effek­ti­vität von Elektro­lyse­prozessen und stören diese. Die Ver­ankerung eines Gas­bläschen an der Ober­fläche ver­hindert das beständige An­wachsen des Drucks im Bläschen, wodurch es stabi­lisiert wird. Die Ergeb­nisse der Forschungs­gruppe können die Ver­ankerung erklären: Uneben­heiten auf der Ober­fläche, die nur wenige Nano­meter groß sind, sind hier­für verant­wortlich.

Auch für weitere praktische Anwendungen können die in der Arbeit gewon­nenen Erkennt­nisse von Bedeutung sein. Hier ist zum Beispiel die Nutzung von Flüssig­keits­brücken für den künst­lichen Zusammen­bau von Nano­strukturen zu erwähnen. Mit Hilfe dieser Brücken werden Nano­teilchen posi­tio­niert und orientiert. Auch hier spielt die Verankerung an Uneben­heiten eine wichtige Rolle. Die Wissen­schaftler haben sich bereits weitere Ziele gesteckt: Sie wollen unter­schied­liche Uneben­heiten auf Ober­flächen unter­suchen, um heraus­zu­finden, welchen Ein­fluss die jeweilige Material­zusammen­setzung oder geo­metrische Form einer Nano­meter kleinen Uneben­heit auf das Auf­halten eines Flüssig­keits­tropfens hat. Die Forscher interes­sieren sich auch für kollektive Phänomene. „Als nächstes wollen wir unter­suchen, welchen Ein­fluss mehrere Defekte haben, die als Gruppe nahe bei­ein­ander liegen“, so Schimmele. „Außerdem interes­siert uns, wie sich das Fließ­ver­halten von Flüssig­keiten bei Hinder­nissen verhält, die durch Vertie­fungen auf Ober­flächen entstehen, anstelle von den bisher unter­suchten Erhebungen.“

MPI IS / RK

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