Was unterscheidet Materie von Antimaterie?
Mit Hochpräzisionsmessungen suchen Physiker nach Verletzungen der Symmetrie von Materie und Antimaterie.
Vor 13,8 Milliarden Jahren sind Materie und Antimaterie in einem Urknall gleichzeitig entstanden. So stellen wir uns gegenwärtig den Anfang der Welt vor. Kurz danach haben sich Teilchen und Antiteilchen bei unvermeidbaren Kollisionen gegenseitig vernichtet. Von diesen Annihilationen blieben am Ende nur Photonen und Neutrinos übrig, wovon heute noch die kosmische Hintergrundstrahlung zeugt. Sie enthält eine Milliarde mal mehr Photonen und Neutrinos als Teilchen in der uns bekannten Materie. Es scheint, dass nur ein kleines bisschen Materie, aus der auch wir selbst bestehen, übrig blieb. Wie kommt es, dass wir heute keine ursprüngliche Antimaterie mehr finden?
Mit solchen Fragen zum Beginn des Universums und zur Materie-Antimaterie-Symmetrie beschäftigen sich nicht nur die unmittelbar daran direkt arbeitenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Physik und Astronomie. Auch weite Kreise in allen modernen Gesellschaften sind dafür hellauf zu begeistern. Selbst die Unterhaltungsindustrie hat mit entwendeter Antimaterie in Filmen wie Angels and Demons oder etwa dem Antimaterieantrieb des Raumschiffes Enterprise ein Millionenpublikum fasziniert. Nach heutigem Kenntnisstand bleiben solche Anwendungen allerdings wegen des erforderlichen Energieaufwandes vorerst im Bereich der Science Fiction.
Paul Dirac hat vor genau 90 Jahren Antiteilchen vorhergesagt. Seit der Beobachtung des ersten Antiteilchens, dem Positron, durch Carl David Anderson fünf Jahre danach konnten wir unser Verständnis von Antimaterie und ihrer Rolle kontinuierlich vertiefen. Nach heutigem Wissenstand gibt es im Universum neben Materie, Photonen und Neutrinos, vor allem dunkle Materie und dunkle Energie. Die beiden machen zusammen etwa 95 % der Masse aus, nur 5 % entfällt also auf die bisher bekannten Teilchen. Können wir diese Beobachtungen verstehen?
Antimaterie wird allenfalls in Form einzelner Teilchen gefunden. Antiprotonen können beispielsweise entstehen, wenn hochenergetische kosmische Teilchen auf die Erdatmosphäre treffen. Man kann sie aber auch gezielt in relativ kleinen Mengen an Teilchenbeschleunigern wie im internationalen Forschungslabor CERN erzeugen, wenn man energiereiche Protonen gezielt auf ein Target lenkt.
Zur Erklärung des Materieüberschusses im Universum gibt es eine Vielzahl theoretischer Modelle. Jede einzelne dieser Arbeiten ist derzeit weder richtig noch falsch. Gezielt geplante Experimente und Beobachtungen, die zur Bestätigung oder zum Verwerfen von theoretischen Ansätzen führen, können uns hier weiterbringen. Darüber hinaus können auch zufällige Entdeckungen die Entwicklung verbesserter Modelle einleiten. Es ist das kontinuierliche Wechselspiel von neuen Ideen in der Theorie und immer präziser werdenden Messungen, was unser Wissen stetig erweitert.
In der Natur spielen Symmetrien eine sehr wichtige Rolle. In der Physik zeigt sich, dass einige der früher als absolut gültig angesehenen Symmetrien durch Naturkräfte nicht immer eingehalten werden. Bei Zerfällen der als neutrale Kaonen bekannten Teilchen wird ein kleiner Unterschied im Verhalten von diesen und ihren Antiteilchen gesehen. Dieser Effekt der sogenannten CP-Symmetrie-Verletzung ist jedoch unzureichend, um das Verschwinden von Antimaterie zu erklären.
Deshalb wird nach weiteren und anderen Symmetrieverletzungen gesucht, beispielsweise der CPT-Symmetrie. Sie besagt, dass Teilchen und Antiteilchen bis auf das Vorzeichen der elektrischen Ladung völlig identisch sein müssen. Weltweit vermessen darum Experimente unter anderem die Eigenschaften von Teilchen und von Antiteilchen und auch von Atomen wie Wasserstoff und Antiwasserstoff mit höchster Präzision. Im BASE-Experiment am CERN, das Christian Smorra, Stefan Sellner und Stefan Ulmer in der aktuellen Ausgabe von Physik in unserer Zeit vorstellen, werden insbesondere die Antiprotonen mit genauesten und den besten derzeit verfügbaren Apparaturen untersucht.
Abb. 1 Das Vier-Penning-Fallensystem des BASE-Experiments zur hochpräzisen Vermessung der Eigenschaften des Antiprotons.
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Nicht nur die Wissenschaft will lernen, ob die Beobachtungen die theoretischen Vorhersagen bestätigen. Eine breite Öffentlichkeit wartet auf einen entscheidenden experimentellen Fingerzeig, der uns in einer der spannendsten wissenschaftlichen Fragen zu unserer eigenen Existenz ein Stück weiter voranbringt.
Klaus Jungmann, Universität Groningen
Dieses Editorial kommentiert den Artikel von Christian Smorra, Stefan Sellner und Stefan Ulmer. Beide Artikel sind in der aktuellen Ausgabe von Physik in unserer Zeit erschienen.