28.09.2020 • Biophysik

Weiche Materie auf neuen Wegen zur Selbstorganisation

Nematisches Material schrumpft zu einem flachen Blatt – und erzeugt dann dreidimensionale Muster.

Nematische Materialien bestehen aus stab­förmigen Molekülen und verbinden Eigen­schaften von Flüssig­keiten mit Eigen­schaften fester Kristalle. Sie fließen wie eine Flüssig­keit und ihre Bestand­teile sind im Raum ungeordnet, aber sie sind in der Lage, sich selbst so zu orien­tieren, sodass die benach­barten Moleküle parallel ausge­richtet sind. Nematische Flüssig­kristalle sind in Displays zahl­reicher Geräte weit verbreitet, wo die nematisch geordneten Moleküle durch Anlegen eines elektrischen Feldes neu ausge­richtet werden und so ein Pixel hell oder dunkel werden lassen. Sind nematische Materialien aus Mikro­tubuli und Kinesinen aufgebaut, so werden sie aktiv und bewegen und verformen sich – ohne Zufuhr von Energie von außen. Forscher des MPI für Dynamik und Selbst­organi­sation in Göttingen berichten jetzt über die Erfindung eines aktiven, drei­dimen­sionalen nematischen Materials. Das Material durch­läuft mehrere räum­liche Formen, es schrumpft zu einem Band zusammen und bildet dann drei­dimen­sionale Falten.

Abb.: Mikrotubuli (grün) bilden ein Band, das sich vertikal verdichtet und...
Abb.: Mikrotubuli (grün) bilden ein Band, das sich vertikal verdichtet und dann Falten bildet. (Bild: MPIDS)

Die aktiven Nematen wurden vor etwa einem Jahr­zehnt entdeckt. Sie werden als aktiv bezeichnet, weil das Material zur Neu­orien­tierung keine externe Energie­quelle benötigt, sondern seine interne Energie­quelle mit sich führt und in der Lage ist, sie zu nutzen, um Bewegungen von innen heraus zu steuern. Die Materialien, die aktive Nematen bilden, stammen aus biolo­gischen Zellen. In der Zelle sind Mikro­tubuli und Kinesin­motoren wesentliche Bestand­teile des Zyto­skeletts, eines losen Netz­werks, das den Zellkern umgibt und der Zelle sowohl mechanische Steifig­keit als auch Bahnen zum Transport von Materialien verleiht.

Kinesine wandeln chemische Energie, die durch die Hydro­lyse von Adenosin-Triphosphat, kurz ATP, gewonnen wird, in mechanische Arbeit um, während sie entlang der Mikro­tubuli „laufen“. Sie trans­portieren lebens­wichtige Moleküle inner­halb der Zelle und sind an der Zell­organi­sation und Zell­teilung beteiligt. Außer­halb der Zelle können Mikro­tubuli und Motor­proteine ein anderes Verhalten annehmen: Während die Mikro­tubuli nematisch ausge­richtet werden, werden sie durch Kinesine, ange­trieben von ATP unter mechanische Spannung gesetzt.

Aktive Nematen stellen ein faszi­nie­rendes Modell­system dar, das dabei hilft, die selbst­organi­sie­enden Prozesse in der Zelle zu verstehen, und bietet eine ideale Struktur, um die Theorien der aktiven Materie zu testen und voran­zu­treiben. In der Vergangen­heit wurden aktiven Nematen in zwei­dimen­sio­nalen Schichten unter­sucht, zum Beispiel zwischen Wasser und einem Öltröpfchen. Bei aus­reichender Aktivität sind Motor­proteine in der Lage, die Ordnung der ausge­richteten Mikro­tubuli zu zerstören, was zur spontanen Muster­bildung und zu einem als aktive Turbulenz bezeichneten Zustand führt, einem ständig bewegten chaotischen Zustand.

Isabella Guido und ihre Kollegen vom MPI für Dynamik und Selbst­organi­sation konnten die Ein­schränkung der Grenz­flächen­schichten über­winden und drei­dimen­sionale aktive Nematen erzeugen. „Es war nicht einfach, die vertraute zwei­dimen­sionale flache Geometrie zu verlassen. Man verdünnt das System unweiger­lich und muss dann die richtige chemische Umgebung finden, die es immer noch erlaubt, die gewünschten aktiven Kräfte zu erzeugen“, sagt Guido, die das experi­men­telle Forschungs­team in der Abteilung für Strömungs­physik, Muster­bildung und Bio­komplexität leitet. „Es ist die Abfolge der Ereignisse, bei der ein unschein­bares Volumen­material plötzlich zu einem flachen Blatt zusammen­schrumpfte, dann aber anfing, 3D-Muster zu erzeugen, die wir noch nie zuvor gesehen haben und die uns sehr erstaunt haben.“

Tatsächlich entwickelt sich das System in Zeit und Raum weiter. Anstatt drei­dimen­sional zu bleiben, also das Volumen der Versuchs­kammer auszu­füllen, fällt es zunächst zu einem flachen Band zusammen. In diesem Band verursachen die molekularen Motoren eine Druck­spannung, die zu einer Instabi­lität und Falten­bildung führt. Danach wachsen die Falten so lange, bis das gefaltete Band ausein­ander­fällt und das gesamte Volumen wieder mit turbulenten Fäden füllt, die spontan wachsende Schleifen bilden, sich ständig auflösen und an anderer Stelle wieder neu bilden. „Diese Beob­ach­tungen sind eine bemerkens­werte Darstellung dafür, wie Nicht­gleich­gewichts­aktivität in Verbindung mit der ausge­klügelten Dynamik von Systemen der weichen Materie zu neuen Wegen der Selbst­organi­sation führen kann", erklärte Ramin Golestanian, Direktor der Abteilung Physik der lebenden Materie.

Die Theoretiker lieferten eine Erklärung für das beobachtete Verhalten und führten Computer­simu­lationen durch, wie das System die beschriebenen Stadien durch­läuft. Gruppen­leiter Andrej Vilfan sagt: „Im Experiment sehen wir die Mikro­tubuli, aber die Natur der Kräfte zwischen ihnen ist schwer zu verstehen. Die Kombi­nation von Experi­menten mit Computer­simula­tionen hat uns ein neues Verständnis­niveau ermöglicht. In der Tat zeigen wir, dass die meisten Motoren gegen­ein­ander arbeiten. Im System besteht nur ein winziges Ungleich­gewicht zwischen den Motoren, die in verschiedenen Richtungen arbeiten. Dieses Ungleich­gewicht verursacht all die Phänomene, die wir beobachten.“

Die Ergebnisse werden neue Erkennt­nisse über die Organi­sation und die Kraft­erzeugung in biolo­gischen Zellen bringen. „Unser Ziel ist es, mit synthe­tischen und biolo­gischen Bausteinen Nach­bildungen natür­licher Systeme zu schaffen. Wenn wir endlich heraus­finden können, wie man die Bewegung in solchen vom Menschen geschaffenen aktiven Systemen steuern kann, haben wir das Potenzial, biomime­tische Vorrich­tungen zu entwickeln, die als Aktoren in zukünftigen biotechno­logischen Anwendungen eingesetzt werden können“, sagt Eberhard Boden­schatz, Direktor der Abteilung Strömungs­physik, Muster­bildung und Bio­komplexität. „Wir beginnen nun, das neuartige Material in verschiedene Formen zu bringen und werden beobachten, zu welchen neuen Phänomenen dies führen kann“, ergänzt Guido. „Wir sind sicher, dass spannende Entdeckungen auf uns warten.“

MPIDS / RK

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