05.11.2009

Weiches Kolloid bildet robustes Glas

Glasartiges Verhalten kann jetzt in seiner ganzen Bandbreite mit Kolloiden nachgeahmt werden.


Glasartiges Verhalten kann jetzt in seiner ganzen Bandbreite mit Kolloiden nachgeahmt werden.

Wegen seiner großen wirtschaftlichen Bedeutung ist Glas ein intensiv erforschtes Material. Doch die Umwandlung vom flüssigen in den amorphen, glasartigen Zustand gibt noch immer Rätsel auf. Wieso bildet eine Flüssigkeit bei Abkühlung ein Glas statt zu kristallisieren, und wie lässt sich der „Glasübergang“ beschreiben? Die Vorgänge in molekularen Gläsern studiert man auch an kolloiden Modellen. Die in einer Flüssigkeit gelösten Kolloidteilchen können ebenfalls einen glasartigen Zustand bilden, den man indes leichter untersuchen kann: Kolloidteilchen sind viel größer als Moleküle und bewegen sich langsamer. Bisher konnte man auf diese Weise nur bestimmte Gläser nachbilden. Forscher an der Harvard Universität haben jetzt mit weichen Kolloiden auch die bislang unzugänglichen Gläser modelliert.

Abb.: Kolloide und glasbildende Flüssigkeiten zeigen sehr ähnliches Verhalten: (a) Der Anstieg der Relaxationszeit eines Kolloids mit zunehmenden Teilchenkonzentration hängt empfindlich von der Elastizität (soft, intermediate, hard) der Kolloidpartikel ab. (b) Die Viskosität verschiedener glasbildender Flüssigkeiten in Abhängigkeit von der molekularen Dichte. (Bild: C. Austen Angell, Kazuhide Ueno, Nature)

Erwärmt man ein Glasstück auf über 600 °C, so wird es zuerst weich, dann zähflüssig und schließlich dünnflüssig. Die Viskosität des Materials ändert sich dabei um viele Größenordnungen. Je nach Glassorte kann sich der Übergang vom weichen amorphen in den dünnflüssigen Zustand über ein mehr oder weniger großes Temperaturintervall erstrecken. Bei einem strukturell „fragilen“ Glas reicht schon eine geringe Temperaturerhöhung, um es zu verflüssigen. Ein robustes Glas ist hingegen über einen größeren Temperaturbereich weich oder zähflüssig. Es eignet sich deshalb besser für die Glasbläserei.

Mit den üblicherweise benutzten Kolloiden aus harten, mikrometergroßen Teilchen konnte man nur fragile Gläser nachbilden. Um in einem Kolloid den Glasübergang vom flüssigen in den festen Zustand zu beobachten, ändert man statt der Temperatur die Teilchenkonzentration in der Lösung. Mit zunehmender Konzentration werden die Teilchen immer weniger mobil. Schließlich sind sie so dicht gepackt, dass sie steckenbleiben und sich nicht mehr bewegen können. Sie bilden ein festes, glasartiges Aggregat. Mit Kolloiden aus harten Partikeln fand dieser Übergang in den Glaszustand immer sehr abrupt statt, wie man es auch bei fragilen molekularen Gläsern beobachtet.

Forscher um Johan Mattsson und David Weitz haben jetzt erstmals den Glasübergang an Kolloiden aus weichen Teilchen untersucht. Es handelte sich dabei um eine wässrige Lösung von Mikrogelpartikeln mit etwa 200 nm Durchmesser, deren Elastizität variiert werden konnte. Die Forscher untersuchten die Beweglichkeit der Teilchen und die Stabilität der Teilchenanordnung mit Hilfe von Licht und mechanischen Schwingungen. Dabei veränderten sie systematisch die Konzentration der Teilchen und ihre Elastizität. Die Messergebnisse trugen sie in einem Arrhenius-Diagramm auf, das denen von molekularen Gläsern verblüffend ähnelte (s. Abb.).

Das Diagramm zeigte den Logarithmus der Relaxationszeit des Kolloids (innerhalb der ein von außen gestörtes Kolloid in seinen Anfangszustand zurückkehrt) aufgetragen gegen die Teilchenkonzentration (normiert mit der kritischen Konzentration, bei der der Glasübergang abgeschlossen ist). Je nach Elastizität der Gelpartikel ergaben sich unterschiedlich stark gekrümmte Kurven. Für ein Kolloid mit sehr weichen Partikeln nahm die Relaxationszeit kontinuierlich mit der Konzentration zu und das Kolloid wurde langsam zähflüssiger. Der Vorgang ähnelte sehr stark der Bildung eines robusten molekularen Glases. Je härter die Gelpartikel waren, umso abrupter setzte die Verfestigung ein. Für sehr harte Partikel nahm die Relaxationszeit des Kolloids erst bei einer Konzentration knapp unter 1 merklich zu und stieg dann rapide an.

Mit ihren Kolloiden aus elastischen Teilchen können die Harvard-Forscher Gläser mit sehr unterschiedlichem Verhalten modellieren und erforschen. Die Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass auch bei glasbildenden molekularen Flüssigkeiten die Elastizität eine wichtige Rolle spielt. Die Fragilität eines Glases wird demnach stärker von der Elastizität der chemischen Bindungen zwischen den Molekülen beeinflusst, als man das bisher geglaubt hatte. Die Erforschung des rätselhaften Glasübergangs ist in eine neue Runde gegangen.

RAINER SCHARF

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