Wenn Born-Oppenheimer versagt
Fluor reagiert mit Deuterium anders als man aufgrund der Born-Oppenheimer-Näherung erwarten würde.
Fluor reagiert mit Deuterium anders als man aufgrund der Born-Oppenheimer-Näherung erwarten würde.
Mit der Entdeckung der Quantentheorie kenne man die physikalischen Gesetze, die man für eine mathematische Theorie der gesamten Chemie benötigt, meinte Dirac 1929. Doch schon bei der Berechnung einfachster chemischer Reaktionen kommt man nicht ohne Approximationen aus. Hier hat sich ein von Born und Oppenheimer 1927 veröffentlichtes Näherungsverfahren bewährt, bei dem man annimmt, dass die trägen Atomkerne nicht an der Bewegung der flinken Elektronen teilnehmen. Jetzt haben Forscher aus China, Deutschland und den USA gezeigt, dass die BO-Näherung versagt, wenn Fluor und Deuterium miteinander reagieren.
Die BO-Näherung beruht darauf, dass die Atomkerne wesentlich schwerer sind als die Elektronen. Deshalb sind die typischen Rotations- und Schwingungsenergien eines Moleküls erheblich kleiner als seine elektronischen Energien – und die Atomkerne bewegen sich im Molekül viel langsamer als die Elektronen. Man nimmt vereinfachend an, dass sich die Elektronen augenblicklich auf die jeweils vorliegende Konfiguration der Kerne einstellen. Folglich löst man die Schrödinger-Gleichung nur für die Elektronen, mit den Kernpositionen als Parameter. Daraus erhält man ein Potential, in dem sich die Kerne bewegen, während sich die Wellenfunktion der Elektronen adiabatisch ändert. So lässt sich verfolgen, wie sich die Elektronen im Verlaufe einer chemischen Reaktion neu um die Atomkerne gruppieren.
Bei der chemischen Reaktion zwischen einem Fluoratom und einem Deuteriummolekül (F + D 2 → DF + D) versagt die BO-Näherung jedoch völlig, wie Forscher um Xueming Yang vom Dalian Institute of Chemical Physics berichten. Sie haben experimentell gezeigt, dass die Reaktion auf eine Weise ablaufen kann, die nach der BO-Näherung verboten ist. Unter bestimmten Bedingungen ist der verbotene Reaktionsweg sogar wahrscheinlicher als der von der BO-Näherung erlaubte Weg.
Bei ihrem Experiment ließen die Forscher einen Strahl von Fluoratomen unter einem bestimmten Winkel einen Strahl von Deuteriummolekülen kreuzen. Durch Veränderung des Winkels konnte die Kollisionsenergie der Reaktionspartner variiert werden. Das D 2 war im Ortho-Zustand präpariert worden, d. h. sein Gesamtkernspin und sein Drehimpuls hatten nur geradzahlige Werte. Durch Kühlung wurden die Deuteriummoleküle in den niedrigsten Rotationszustand j=0 gebracht. Die Fluoratome befanden sich zu 83 % im Grundzustand F( 2P 3/2) und zu 17 % im angeregten Zustand F*( 2P 1/2).
Die Forscher untersuchten, wie die Fluoratome und die Deuteriummoleküle bei sehr niedrigen Kollisionsenergien (<1,2 kcal/mol) miteinander reagierten. Dazu wurde die Energieverteilung der nach der Reaktion auftretenden Deuteriumatome anhand der Flugzeiten gemessen, die diese auf ihrem Weg zu einem Detektor benötigten. Daraus ließ sich folgern, dass die entstandenen DF-Moleküle vor allem in den Schwingungszuständen ν = 2, 3 und 4 vorlagen. Glaubte man der BO-Näherung, so konnten diese Reaktionsprodukte nur aus F + D 2 entstehen, nicht jedoch aus F* + D 2, da sich aus dem angeregten Anfangszustand F* die Reaktionsprodukte nicht adiabatisch bilden konnten.
Der „erlaubte“ adiabatische Weg war jedoch beschwerlich. Von F + D 2 ausgehend, musste eine Potentialbarriere von 1,2 kcal/mol überwunden werden, damit die Reaktion stattfinden konnte. Für darunter liegende Kollisionsenergien konnte die Reaktion nur durch quantenmechanisches Tunneln eines D-Atoms stattfinden – und die Wahrscheinlichkeit dafür nahm mit kleiner werdender Kollisionsenergie rasch ab. Die Energie des angeregten Zustands F* lag hingegen nur ganz knapp unter der Potentialbarriere. Dadurch wäre die nicht-adiabatische Reaktion F* + D 2 → DF + D bei niedrigen Kollisionsenergien bevorzugt. Und tatsächlich beobachteten die Forscher, dass diese von der BO-Näherung „verbotene“ Reaktion bei einer Kollisionsenergie von 0,2 kcal/mol etwa 1,6-mal häufiger vorkam als die adiabatische Reaktion. Verbesserte Berechnungen, die ohne die BO-Näherung auskamen, konnten für beide Reaktionswege die beobachteten Energieverteilungen erklären.
Warum hatte die BO-Näherung versagt? Der Grund war eine Resonanz: Die Energieaufspaltung zwischen zwei unterschiedlichen Spin-Bahn-Zuständen des Fluoratoms stimmte mit der Energiedifferenz zweier Rotationszustände des D 2-Moleküls überein. Dadurch wurden die Bewegungen der Elektronen und der Kerne miteinander gekoppelt. Die Verhältnisse waren demnach komplizierter, als es Born und Oppenheimer erlaubten. Doch inzwischen hat man auch für solche Fälle eine praktikable Theorie, wie die Resultate der Forscher zeigen. Dirac hätte seine Freude.
Rainer Scharf
Weitere Infos:
- Originalveröffentlichung:
Li Che et al.: Breakdown of the Born-Oppenheimer Approximation in the F + o-D 2 → DF + D Reaction. Science 317, 1061 (2008).
http://dx.doi.org/10.1126/science.1144984 - Xueming Yang am Dalian Institute of Chemical Physics:
http://www.english.dicp.ac.cn/05coop/02/01.htm - Hans-Joachim Werner an der Universität Stuttgart:
http://www.theochem.uni-stuttgart.de - Millard H. Alexander an der University of Maryland:
http://www.chem.umd.edu/groups/alexander/
Weitere Literatur:
- Dongxu Dai et al.: Interference of Quantized Transition-State Pathways in the H + D 2 → D + HD Chemical Reaction. Science 300, 1730 (2003).
http://dx.doi.org/10.1126/science.1084041 - Minghui Qiu et al.: Observation of Feshbach Resonances in the F + H 2 → HF + H Reaction. Science 311, 1440 (2006).
http://dx.doi.org/10.1126/science.1123452 - Kopin Liu, Rex T. Skodje und David E. Manolopoulos: Resonances in bimolecular reactions. PhysChemComm 5, 27 (2002).
http://www.rsc.org/publishing/journals/article.asp?doi=b110570a (frei!) - Millard H. Alexander et al.: Theoretical Study of the Validity of the Born-Oppenheimer Approximation in the Cl + H 2 → HCl + H Reaction. Science 296, 715 (2002).
http://dx.doi.org/10.1126/science.1070472 - David E. Manolopoulos: Bending or Breaking the Rules? Science 296, 664 (2002).
http://dx.doi.org/10.1126/science.1071814