Wenn Dynamik in der Statik verschlüsselt ist
Mainzer Forscher kann mit seiner Formel erstmalig eine wichtigen Streuprozess in der Teilchenphysik berechnen.
Während Experimentalphysiker immer genauere Messungen vornehmen und tiefer in die Bestandteile der Materie vordringen, stoßen die Modelle der Theoretiker zunehmend an ihre Grenzen. Harvey Meyer, theoretischer Physiker am Institut für Kernphysik der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, hat nun eine Formel entwickelt, die eine wesentlich genauere Berechnung bestimmter wichtiger Prozesse bei subatomaren Teilchen ermöglicht. Zum einen zeigt er damit, dass auch dynamische, zeitabhängige Größen mittels Computersimulationen gerechnet werden können. Zum anderen könnte dadurch eine Annäherung an die Ergebnisse der Experimentalphysiker auf einem wichtigen Forschungsfeld erfolgen.
Meyer entwickelte seine Formel für einen wichtigen Streuprozess bei Elementarteilchen: die Kollision von einem Elektron einem Positron. Bei dem Zusammenstoß kommt es zur Paarvernichtung und es entstehen zwei unterschiedlich geladene Pionen.
Da die Pionen eine komplexe innere Struktur haben, ist die analytische Lösung des Streuprozesses unmöglich. Meyers Formel baut auf dem Vorschlag von Michael Creutz aus den 1970er Jahren auf, wonach sich die komplexe Dynamik der Quarks und Gluonen stattdessen mittels Computersimulationen berechnen lässt. Creutz ist Wissenschaftler am Brookhaven National Laboratory und derzeit als Forschungspreisträger der Alexander-von-Humboldt-Stiftung zu Gast bei Hartmut Wittig am Institut für Kernphysik in Mainz.
Meyer verwendet bei seiner Rechnung einen Trick, den zuvor die Physiker Lellouch und Lüscher auf den Zerfall eines Kaons in zwei Pionen angewandt haben und der darauf basiert, dass die Dynamik der Pionen in ihren stationären Quantenzuständen in einem begrenzten Volumen verschlüsselt ist. Die neue Formel zeigt, wie der Streuprozess aus diesen Quantenzuständen bestimmt werden kann und macht ihn dadurch für Computersimulationen zugänglich.
Die Bedeutung dieses Prozesses liegt vor allem darin, dass er den Beitrag der Quarks und Gluonen zum magnetischen Moment des Myons bestimmt. Die bislang genaueste direkte Messung des magnetischen Moments wurde 2001 in einem Brookhaven-Experiment erzielt. Sie entspricht ungefähr der Bestimmung der Distanz zwischen Paris und New York mit einer Genauigkeit von einem Millimeter. Die theoretische Rechnung derselben Größe anhand des Standardmodells ergibt ein deutlich abweichendes Ergebnis. Und ein Unterschied zwischen Theorie und Experiment beim magnetischen Moment des Myons könnte auf neue Teilchen jenseits des Standardmodells hinweisen. Bisher wurde der Beitrag der Quarks und Gluonen zum magnetischen Moment des Myons über den Prozess der Elektron-Positron-Paarvernichtung ausgedrückt und experimentell gemessen. Nun ist es auch möglich, diesen Prozess mittels Computersimulationen zu berechnen und dies mit der experimentellen Messung zu vergleichen.
Neue Messungen des magnetischen Moments des Myons sind derzeit am Fermilab, einem Forschungszentrum nahe Chicago, in Planung. Sie lassen eine viermal größere Genauigkeit gegenüber den bisherigen experimentellen Daten erwarten, was eine entsprechende Verfeinerung der Standardmodell-Vorhersage verlangt. Die Experimentalphysiker Achim Denig und Miriam Fritsch an der Johannes-Gutenberg-Universität tragen dazu wesentlich bei, indem sie experimentelle Elektron-Positron-Präzisionsdaten sorgfältig analysieren. Gleichzeitig steuern Theoretiker um Hartmut Wittig neue Beiträge zur theoretischen Vorhersage des myonischen magnetischen Moments mittels Simulationen auf dem lokalen Rechnercluster „Wilson“ bei.
U. Mainz / OD