07.04.2022

Wenn Elektronen lange schaukeln

Röntgenexperimente zeichnen ultraschnelle Ladungsdynamik in Kristallen auf.

Forschende am Max-Born-Institut in Berlin haben jetzt Licht in das Rätsel gebracht und die konzer­tierte Bewegung von Elektronen und Atomkernen in kristallinen Festkörpern direkt abgebildet. Sie erklären, wie Schwingungs­bewegungen von Atomkernen Elektronen­bewegungen hervorrufen, die sich über etwa 500 mal größere Distanzen erstrecken als die Auslenkungen der Atomkerne selbst.

 

Abb.: Einheitszelle von cBN mit Bor- und Stickstoff-Atomen. (Bild: MBI)
Abb.: Einheitszelle von cBN mit Bor- und Stickstoff-Atomen. (Bild: MBI)

Phononen sind quantisierte Anregungen eines Kristallgitters, die Schwingungen seiner Atome entsprechen. Gemäß dem adia­batischen physikalischen Bild folgen Elektronen den Bewegungen der Atomkerne ohne jegliche Verzögerung, Atomkerne und Elektronen bewegen sich also gemeinsam. Während dieses Bild für Elektronen in den inneren Schalen eines Atoms gültig ist, versagt es für die Valenz­elektronen, die sich die Atome innerhalb der Elementar­zelle eines Kristalls teilen. Eine spezielle Sorte von Phononen sind die weichen Moden, bei denen die Elektronen über große interatomare Abstände bewegt werden und damit die elektrischen Eigen­schaften des Kristalls verändern. Die Eigenschaften von weichen Moden wurden in den letzten Jahrzehnten zwar intensiv untersucht, sind aber weitgehend unverstanden. Für ein besseres Verständnis ist es notwendig, die zeit­abhängigen Atompositionen und die Elektronen­dichte innerhalb der Einheits­zelle synchron experimentell abzubilden. Hierbei spielt Femtosekunden-Röntgenbeugung eine Schlüsselrolle.

Die Forschenden haben die konzer­tierte Bewegung von Elektronen und Atomkernen in kristallinen Festkörpern direkt abgebildet. Mit Femto­sekunden-Röntgen­beugung wurden zwei prototypische poly­kristalline Materialien untersucht, kubisches Bornitrid (cBN) und Kalium­dihydrogen­phosphat (KH2PO4, KDP). Die Experimente führten zur Entdeckung von zwei verwandten Phänomenen. Eine Anregung von akustischen Zonenrand-Phononen in cBN ist mit einer Verlagerung von Valenz­elektronen aus Zwischengitterplätzen der Einheitzelle auf die Atome verbunden, was zu einer räumlichen Konzentration der Elektronen­dichte führt. Und die kohärente Anregung einer niederfrequenten weichen Mode in para­elektrischem KDP führt zu ausdauernden Schaukel­bewegungen von Valenz­elektronen zwischen verschiedenen Atomen innerhalb der Einheitszelle.

Das Team baute hierzu ein Röntgen­beugungs­experiment mit Femtosekunden-Zeitauflösung auf, welches in Kombination mit der Maximum-Entropie-Methode erlaubt, Schnappschüsse der momentanen Elektronen­verteilung in der Einheitszelle des jeweiligen Kristalls aufzunehmen. Röntgenbeugung erfasst Elektronen in den inneren Schalen nahe am Atomkern und Valenz­elektronen und stellt somit das perfekte Werkzeug dar, um die Atompositionen und die Valenz­elektronendichte auf atomaren Längen- und Zeitskalen zu verfolgen. In den Experimenten löst ein ultrakurzer optischer Lichtimpuls mittels impulsiver Raman-Streuung atomare Schwingungs­bewegungen, also Phonon­anregungen in einer Pulverprobe aus, die aus vielen kleinen Kristalliten besteht. Femtosekunden-Abtast­impulse harter Röntgen­strahlung werden dann an der angeregten Probe gebeugt.

Aus dem Beugungsbild lässt sich dann die augenblickliche Elektronen­dichtekarte der Einheits­zelle rekonstruieren. Verändert man nun die Ankunftzeit des Röntgen-Abtast­impulses gegenüber der des Anregungs-Lichtimpulses lässt sich ein Film drehen, der die Zeitentwicklung der Atom­positionen und Elektronen­dichte­karte direkt zeigt. Die nicht­resonante impulsive Raman-Anregung stellt sicher, dass der untersuchte Kristall dabei im elektronischen Grundzustand bleibt.

MBI / JOL

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