04.05.2016

Wenn Kräfte sich nicht einfach addieren

Vielteilchen-Effekt beein­flusst Ver­halten in der Mikro­welt.

In der mikroskopischen Welt, in der moderne miniatu­ri­sierte Maschinen an den Grenzen neuer Techno­logien operieren, sind die Dinge relativ einfach – solange wir es mit zwei Teilchen zu tun haben. Wenn weitere Teilchen hinzu­kommen, wird die Situ­ation jedoch kompli­zierter, als es der gesunde Menschen­verstand nahe­legen würde: Die insgesamt wirkende Kraft weicht von der Summe der Einzel­kräfte ab.

Abb.: Durch Laserstrahlen eingeschlossene Kolloide. (Bild: Bilkent U.)

Betrachten wir ein Festkörperteilchen mit einer Größe von ein paar Tausendstel Millimeter, ein Kolloid, einge­taucht in Flüssig­keit. Direkt davor befinde sich ein ähnliches Teilchen. Wenn es kritische thermische Fluktu­ationen in der sie trennenden Flüssig­keit gibt, stoßen sie sich gegen­seitig entweder ab oder ziehen sich an, ohne sich zu berühren – hierfür sind die Fluktu­ationen verant­wortlich. Anders ausge­drückt entsteht eine kritische Casimir-Kraft, als wären die Teilchen durch eine unsicht­bare Feder verbunden. Um kritische Fluktu­ationen zu erreichen, benötigt man nur eine von zahl­reichen trans­parenten Flüssig­keiten, bestehend aus einer Mischung aus zwei Flüssig­keiten, welche sich wie Öl und Wasser bei Erhöhung ihrer Tempe­ratur all­mählich trennen.

Was geschieht, wenn ein drittes Kolloid hinzukommt? „Etwas, das unserer Intuition wider­spricht“, erklärt Andrea Gambassi vom Institut SISSA in Italien. „Die Gesamt­kraft, die eines der Teilchen wahr­nimmt, weicht von der Summe der Inter­aktionen mit den anderen beiden, wenn diese einzeln vorhanden sind, ab. Einfach ausge­drückt summieren sich die Kräfte nicht linear, so wie sie es in unserem Alltags­leben tun. Hier haben wir es mit einem Viel­teilchen-Effekt zu tun, der typisch für durch Fluktu­ationen ausgelöste Kräfte ist.“

Eine neue Studie von Gambassi und Kollegen beschreibt diesen Effekt zum ersten Mal in einem System bestehend aus Silicium­dioxid-Mikro­kugeln, die in eine Flüssig­keit getaucht wurden. Durch die Rekon­struktion kritischer Casimir-Kräfte erst mit nur zwei und danach mit drei Teilchen demon­strierten die Forscher die Nicht-Addi­ti­vität dieser Kräfte. „Die Kenntnis dieser Effekte ist sowohl für die Grund­lagen- als auch für die ange­wandte Forschung sehr wichtig – insbe­sondere für Wissen­schaftler, die Mikro­maschinen für viele verschiedene Aufgaben konstru­ieren“, so Gambassi. „Jede Mikro­maschine besteht aus mehreren mecha­nischen Teilen in Relativ­bewegung – um zu verstehen, wie die verschiedenen Zahn­räder ineinander greifen, ist die Kenntnis der Viel­teilchen-Inter­aktion, vor allem in Gegen­wart von Flüssig­keiten, entscheidend.“

Das Experiment startet mit Kolloiden, die in eine Mischung aus Wasser und Lutidin – einer öligen Flüssig­keit – einge­taucht werden. Unter 34 Grad Celsius ähnelt diese Mischung Wasser, doch wenn die Temperatur erhöht wird, setzt ein Übergang ein: Zuerst wird die Flüssig­keit auf­grund der Effekte kritischer Fluktu­ationen trüb. Danach beginnt sich das Öl abzu­trennen und schwimmt auf dem Wasser. „Rund um diesen Phasen­über­gang beob­achten wir die Viel­teilchen-Effekte“, erklärt Giovanni Volpe von der Uni Bilkent in der Türkei, der das Experiment durch­führte.

Die in Flüssigkeiten eingetauchten Kolloide bewegen sich jedoch zufällig und breiten sich mit Brownscher Bewegung aus. Um die Kolloide räumlich einzu­schließen, wurde die Flüssig­keit durch dünne, auf einen Punkt fokus­sierte Laser­strahlen beleuchtet. Als die Teilchen in den Strahl ein­drangen, tendierten sie dazu, dort zu bleiben, wo das Licht am stärksten war. So funktio­nierte der Laser wie eine Art optische Pinzette. Durch die Verwendung zweier Laser­strahlen, um zwei Kolloide nahe bei­ein­ander zu halten, war es möglich, ihre zufälligen Bewegungen mit einer Mikro­skop-Video­auf­nahme präzise zu messen. Danach wurden mit statis­tischen Methoden die betei­ligten Kräfte rekon­struiert. Mit Hilfe einer weiteren optischen Pinzette fügten die Forscher schließlich ein drittes Teilchen hinzu.

„Bei Betrachtung des Phasenübergangs beobachteten wir beim Vergleich des Experiments mit zwei und drei Kolloiden, dass es keine lineare Addition der Kräfte gab und dass Viel­teilchen-Effekte vorhanden waren“, erklärt Siegfried Dietrich, vom MPI für Intelli­gente Systeme. „Natürlich würde die Situ­ation bei der Hinzu­fügung weiterer Kolloide noch kompli­zierter und interes­santer.“ Volpe sagt abschließend: „Auf diese Weise haben wir gezeigt, dass der Viel­teilchen-Effekt real ist und konnten ihn mit uner­warteter Genauig­keit messen – vor allem, wenn man bedenkt, dass wir es hier mit Kräften im Bereich eines Tausend­stels eines Million­stel-Gramms zu tun haben. Wir möchten sie nun für die Planung und Entwicklung neuer Mikro­maschinen nutzen.“

MPI-IS / RK

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