Wie Physik Strukturen von Organen beeinflusst
Biophysiker erklären komplexe Strukturbildung in Mini-Organen.
Organe haben oft eine hochkomplexe Struktur, die für die korrekte Funktion aber essenziell ist. Wie diese Strukturen im Lauf der Embryonalentwicklung entstehen, ist eine grundlegende Frage, die Münchner Physiker um Erwin Frey von der LMU und Andreas Bausch an der TU München an Organoiden von Brustdrüsen untersucht haben. Mit diesem System konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nun im Detail zeigen, dass sich kugelförmige Ausstülpungen im Brustdrüsengewebe nach denselben Prinzipien bilden wie Tropfen in einem Wasserstrahl.
Für die experimentellen Arbeiten im Labor von Andreas Bausch züchteten die Wissenschaftler Brustdrüsen-Organoide aus menschlichen Spenderzellen. Organoide sind dreidimensionale Modellsysteme, die physiologisch relevante organähnliche Eigenschaften haben. Die Brustdrüsen-Organoide bildeten eine röhrenartige Struktur mit vielen Verzweigungen, an deren Spitzen sich kugelförmige Ausstülpungen formten. Solche charakteristischen Strukturen zeigen auch menschliche Brustdrüsen, wenn sie Milch bilden, sowie eine Vielzahl weiterer Organe wie die Lunge. Es gelang der Gruppe Bausch erstmals, die Dynamik des Wachstums der Mini-Organe mit einem Mikroskop über mehrere Tage aufzunehmen und dabei mikromechanische Messungen mithilfe von Laser-Ablation vorzunehmen.
Wie die Forschernden nachwiesen, hängt die Ausbildung der kugelförmigen Ausstülpungen mit einer Änderung der Bewegungsrichtung der Zellen im Gewebe zusammen: Alle Zellen des Organoids sind ständig in Bewegung und ziehen dabei an ihren Nachbarzellen. Zunächst laufen sie dabei kollektiv entlang der röhrenförmigen Gewebeäste vor und zurück. „Irgendwann beginnen sie jedoch, an der Spitze der röhrenförmigen Gewebestrukturen eine Rotationsbewegung zu vollführen. Dieses Phänomen hängt mit den Wechselwirkungen zwischen den Zellen zusammen und setzt sich dann weiter nach hinten fort, sodass schließlich die Zellen im Kollektiv rotieren“, sagt Andriy Goychuk, Mitarbeiter von Erwin Frey. Pablo Fernandez und Benedikt Buchmann, Mitarbeiter von Andreas Bausch, erklären das so: „Die Zellen ziehen dann nicht in alle Richtungen gleich stark, daher ändern sich auch die Kräfteverhältnisse: Während vor- und zurücklaufende Zellen stärker entlang der Achse ziehen als entlang des Umfangs der röhrenförmigen Gewebeäste, ist das bei rotierenden Zellen nicht mehr der Fall. Aufgrund der größeren Zugspannung entlang des Umfangs der Röhren wird dann an der Spitze der Röhre eine kugelförmige Ausstülpung im Gewebe ausgebildet.“
Nach Ansicht der Wissenschaftler entstehen diese kugelförmigen Ausstülpungen analog zur Tropfenbildung in einem Wasserstrahl: Wie die Zellen steht auch die Oberfläche des Wasserstrahls unter Spannung. Alle Objekte, die unter Spannung stehen, versuchen, ihre Oberfläche möglichst klein zu halten. Die Oberfläche einer Kugel ist kleiner als die eines Zylinders, deshalb löst sich der Wasserstrahl in Tropfen auf – und im Brustdrüsengewebe verändert die Rotation der Zellen die Kräfteverhältnisse in den röhrenförmigen Gewebeästen so, dass diese ähnlich wie der Wasserstrahl instabil werden und kugelförmige Ausstülpungen ausbilden. „Dieses theoretische Modell setzt einen wichtigen Rahmen, um auch kompliziertere geometrische Formtransformationen in biologischen Geweben zu untersuchen – wie zum Beispiel bei der Entwicklung von Speicheldrüsen, Pankreas, Niere oder sogar Lunge“, sagt Frey.
LMU / JOL