05.01.2007

Zwei Menschen - ein Gedanke

Unterschiedliche neuronale Netze können das gleiche Aktivitätsmuster hervorbringen - das gilt auch bei menschlichen Gehirnen.



Unterschiedliche neuronale Netze können das gleiche Aktivitätsmuster hervorbringen – das gilt auch bei menschlichen Gehirnen.

Obwohl kein Gehirn wie das andere aussieht, ähneln sich die Aktivitätsmuster der Neuronen bei ähnlichen Reizen sehr. Physiker am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen haben nun eine Methode entwickelt, um Netzwerke aus Nervenzellen mathematisch zu modellieren, die bestimmte vorgegebene Aktivitätsmuster erzeugen. Die Forscher hoffen, mit ihrer Methode besser zu verstehen, welche der möglichen Netzwerkkonfigurationen die Evolution bevorzugt hat – und weswegen sie das tat.


Die Nervenzellen des Gehirns sind zu einem komplexen Netzwerk miteinander verschaltet. Jede Aktivität des Gehirns lässt sich darauf zurückführen, dass Nervenzellen „feuern“, das heißt, sie geben elektrische Impulse wie Morsezeichen an andere Zellen weiter. Dabei kommt es auf die genaue Dynamik der neuronalen Aktivität an. Wenn das Gehirn Sinneseindrücke aufnimmt, rechnet oder sich erinnert, verarbeitet es Informationen, die es in Folgen neuronaler Impulse in verschiedenen Nervenzellen verschlüsselt. Obwohl zwei Menschen unterschiedliche Gehirne haben, können sie den gleichen Gedanken haben.

Abb.: Unterschiedliche neuronale Netzwerke können das gleiche Aktivitätsmuster hervorbringen - wie hier am Beispiel eines Netzwerks aus 16 Neuronen dargestellt. Auch im Gehirn des Menschen unterscheiden sich die genauen Strukturen neuronaler Schaltkreise von Person zu Person und können trotzdem ähnliche Dynamik haben und gleiche Funktionen zeigen. In theoretischen Modellen können Memmesheimer und Timme jetzt von der neuronalen Dynamik eines Netzwerks auf seine möglichen Strukturen rückschließen. (Quelle: MPI für Dynamik und Selbstorganisation)

Die Dynamik neuronaler Aktivität hängt also nur bis zu einem gewissen Grad von der Struktur neuronaler Netzwerke im Gehirn ab. Auch für viel einfachere Netzwerke als das menschliche Gehirn gilt: Unterschiedliche Strukturen können die gleiche Funktionalität zeigen. Raoul-Martin Memmesheimer und Marc Timme, Wissenschaftler am Max-Planck Institut für Dynamik und Selbstorganisation und am Bernstein Zentrum für Computational Neuroscience Göttingen, haben eine mathematische Methode entwickelt, mit der sich alle Netzwerke beschreiben lassen, die eine beliebig gewählte Dynamik hervorbringen. Damit stellen sie ein Werkzeug zur Verfügung, mit dem Wissenschaftler in Zukunft gezielt den Zusammenhang zwischen Struktur und Funktion eines neuronalen Netzwerks untersuchen können.

In der Naturwissenschaft untersucht man häufig die Struktur eines Systems, um daraus Schlussfolgerungen über seine Funktion zu ziehen. Memmesheimer und Timme gehen den umgekehrten Weg. „Von einigen einfachen Netzwerken kennen wir die Dynamik ihrer Aktivität, also die Funktion, nicht aber ihre genaue Struktur“, meint Memmesheimer. „Eine beliebige vorgegebene Aktivitätsdynamik kann in aller Regel durch eine Vielzahl ganz verschiedener Netzwerke hervorgebracht werden. Wir haben nun eine Methode entwickelt, mit der man diese Vielfalt mathematisch erfassen kann.“

Das gleicht einer mathematischen Jonglage mit vielen Unbekannten und erfordert hohe Rechenleistungen. Schon bei einem Netzwerk von nur 1.000 Neuronen, bei denen jedes Neuron mit jedem verknüpft sein kann, gibt es eine Millionen mögliche Kontakte zwischen Neuronenpaaren und entsprechend eine unvorstellbar große Zahl möglicher Netzwerke. Jede Verknüpfung kann auf das nachgeschaltete Neuron hemmend oder aktivierend wirken und sich darüber hinaus noch in ihrer Stärke und Reaktionszeit unterscheiden. Die Gesamtheit aller möglichen Netzwerke für eine bestimmte Dynamik gleicht einer komplexen geometrischen Figur in einem multidimensionalen Raum, in der jeder Punkt auf der Oberfläche die Daten für eine Netzwerklösung angibt. Diese Figur haben Memmesheimer und Timme nun mathematisch beschrieben.

Die Anwendbarkeit ihres Modells untersuchten die Wissenschaftler anhand einer konkreten Fragestellung. Sie berechneten die möglichen Netzwerke, die eine bestimmte, zufällig gewählte Dynamik hervorbringen können und gleichzeitig möglichst einfach strukturiert sind: Die Zahl der Verknüpfungen und die Stärke der Synapsen sollten minimal sein. „Übertragen auf ein reales Netzwerk könnte man so zum Beispiel analysieren, welche strukturellen Optimierungsprinzipien in der Evolution wirken“, so Timmes wissenschaftlicher Ausblick.

Von einigen sehr einfachen Netzwerken, die immer wiederkehrende Aktivitätsmuster zeigen, um zum Beispiel den Gang von Insekten zu steuern, kennt man die Dynamik schon recht gut. Sind solche Netzwerke durch den Druck der Evolution möglichst sparsam gebaut, oder hätte es theoretisch noch andere Netzwerke gegeben, die mit einer einfacheren Struktur die gleiche Dynamik hervorbringen können? Wie viele andere mögliche Netzwerke hätte es gegeben, die bestimmte funktionelle und strukturelle Bedingungen erfüllen? Noch gibt es auf diese Fragen keine definitive Antwort, aber mit den mathematischen Analysemethoden von Memmesheimer und Timme rückt ihre Beantwortung näher.

Quelle: Bernstein Centers for Computational Neuroscience

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