Astronomen, Akten und Affären
Günther Rüdiger: Astronomen, Akten und Affären, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2024, 288 S., brosch., 22 Euro, ISBN 9783944913636
Günther Rüdiger
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Als Wiege der europäischen Astrophysik war der Standort des Astrophysikalischen Observatoriums auf dem Potsdamer Telegrafenberg gut ein Jahrhundert lang ein Fixstern der Wissenschaft. Er beherbergte zudem das Geodätische Institut und das Magnetisch-Meteorologische Observatorium. Günther Rüdigers Geschichte beginnt in den 1870er-Jahren und endet 1991. Drei Perspektiven verzahnt er zu einem flüssig lesbaren Ganzen: die spannende Chronologie der Forschungen, die politischen und administrativen Implikationen unter demokratischen wie diktatorischen Verhältnissen und persönliche Erlebnisse.
Wir begegnen zwei Dutzend bedeutenden Forschern, deren jahrzehntelange Lust am registrierenden Beobachten viral ging. Etwa Gustav Spörer, Gymnasiallehrer für Mathematik und Physik, der die Datenerhebung perfektionierte, bevor er 1844 nach Potsdam kam. Geradezu exzessiv wurden 17 Jahre lang meteorologische Messungen durchgeführt. Kaum vorstellbar, so der Autor, dass sich „ohne Rechenhilfsmittel aus den […] händisch gewonnenen Datengebirgen feinste Effekte wie der Einfluss der Sonnenfleckenhäufigkeit auf die Bodentemperatur in bis zu 40 m Tiefe“ gewinnen ließen. Wir begegnen Wilhelm Julius Förster, dem Berliner Sternwarten-Direktor, der „früh und hellsichtig die Bedeutung der solar-terrestrischen Beziehungen“ erkannte.
Die Erfolgsgeschichte kennt jedoch auch Krisen. So konnte Spörer den Trend hin zur Astrophysik nicht stoppen. Er hatte im August 1887 kundgetan, dass „seit der Mitte des 17. Jahrhunderts in einem sehr langen Zeitraume wesentlich andere Verhältnisse auf der Sonne geherrscht“ hätten als in neuerer Zeit und in vorherigen Perioden. Die stark verringerte Sonnenfleckenaktivität von 1645 bis 1715 fiel übrigens mit der mittleren Kleinen Eiszeit in der Nordhemisphäre zusammen. Doch Aktualisierungen zu den heutigen Klimawandel-Debatten sind nicht Sache des Autors.
Mit Adolf Miethe, dem Pionier der Drei-Farben-Astrophotographie, und Albert Einstein begann das 20. Jahrhundert verheißungsvoll. Dank seiner Relativitätstheorie bescherte Einstein der Sonnenphysik ein Comeback. Karl Schwarzschild und Erwin Freundlich begannen, an der Verifikation der Rotverschiebung zu arbeiten. Mit der Machtergreifung Hitlers hob jedoch eine zweite Krise an: Nazis machten Karriere, Juden wurden entfernt, Forschungsrichtungen starben. Nicht der vorgeschlagene Walter Grotrian wurde Leiter des Instituts für Sonnenphysik, sondern der SA-Mann Paul ten Bruggencate. Dabei war es Grotrian, dem noch vor Kriegsausbruch „der entscheidende Hinweis zur Aufklärung der Natur der Sonnenkorona“ gelang. Nach dem Krieg beschäftigte er sich mit der Erforschung der solaren Magnetfelder, um „das alte Rätsel des 11-jährigen Sonnenfleckenzyklus“ zu lösen. Der bedeutende Forschungsstrang der Dynamotheorie entstand. Grotrian zeichnete sich durch Mut in politisch gefährlichen Zeiten aus, etwa indem er unnachgiebig nach seiner Assistentin Helga Starke fragte, über deren Verbleib nach ihrer Verhaftung im Jahr 1951 jede Nachricht fehlte.
1983 kam die staatspolitisch gewollte Wende: Mittelentzüge, Provisorien, Auslagerungen – ein Krisenjahrzehnt ohne Happy End. Der Autor zeigt dennoch, wie trotz Behinderungen nicht nur das wissenschaftliche Leben in der DDR-Diktatur über weite Strecken Früchte trug, sondern auch jenseits der Parteivorgaben Initiativen wie die vom Staatssicherheitsdienst bekämpfte Kreation des „Zeitzeichens“ entstanden, eines Schulterschlusses der Astrophysiker mit Künstlern wie Wieland Förster. Entsprechend schließt er mit einem Nachruf auf den von der Stadt Potsdam geehrten Astrophysiker und Bürgerrechtler Rudolf Tschäpe. Überdies verifiziert Rüdiger wissenschaftspolitische Erkenntnisse, die im Rahmen der Aufarbeitungsliteratur gewonnen, jedoch in historiografischen Schriften zur Akademie der Wissenschaften bislang ignoriert wurden.
Dr. Reinhard Buthmann, Einsiedel