Ab wann trägt das Eis?
Eine typische Winterfrage: Ab wann trägt Eis auf einem Gewässer einen Menschen? Und wie kann man dessen Dicke messen?
Etwa alle drei bis fünf Jahre sinken die Wintertemperaturen in vielen Regionen Deutschlands über einigen Wochen weit unter den Gefrierpunkt. Da wir aktuell wieder einmal einen „richtigen“ Winter erleben, könnte das wieder passieren. Sobald Seen und langsam fließende Gewässer zugefroren sind, lockt es uns alle aufs Eis – sei es zum Schlittschuhlaufen oder so zum vergnügten Herumschlittern.Michael Vollmer von der TH Brandenburg stellt im aktuellen Heft von „Physik in unserer Zeit“ ein eindimensionales Modell vor, das den Prozess des Gefrierens beschreibt (siehe unten). Für diesen Artikel hat er zudem Empfehlungen aus verschiedenen Ländern zusammengestellt, ab welcher Dicke Eis tragfähig genug für einen erwachsenen Mensch ist. Zudem gibt er einen Tipp, wie man rein optisch, ohne ein Loch zu schlagen oder zu bohren, die Eisdicke bestimmen kann. Diese Passagen stellen wir hier online frei lesbar zur Verfügung.
Ab welcher Dicke trägt Eis Menschen?
Kaum ist das Eis einigermaßen dick, tummeln sich schon Menschen darauf, behördliche Warnungen ignorierend. Aber welche Eisdicke trägt welches Gewicht? Gerade in Ländern, in denen Seen regelmäßig zufrieren, sind unterschiedliche Vorschriften und Empfehlungen zum Betreten von Eis zu finden. In Minnesota gibt beispielsweise die Broschüre „Gefahr auf dünnem Eis“ Tipps zum Verhalten auf Eis und für den Fall des Einbrechens. Als minimale Eisdicke zum Spazieren und Eisfischen nennt sie 10 cm, für PKW 20 cm und LKW 30 cm.
Alle solche Zahlenangaben haben allerdings das Problem, dass die Tragfähigkeit nicht nur von der Dicke, sondern auch der Art des Eises abhängt. So ist neugebildetes klares Eis – meist bläulich – stabiler als älteres Eis, das bereits mehrfach Auftau- und Wiedergefrierprozesse durchlaufen haben kann. Wenn gefrorener Schnee auf der Oberfläche vereist, werden viele Luftblasen eingeschlossen, was durch Mehrfachstreuung milchig weiß aussieht. Solches Eis ist im Allgemeinen deutlich poröser und weniger tragfähig als klares Eis. Aus diesem Grund werden in Rhode Island erst mindestens 15 cm Eisdicke als sicher für Spaziergänge eingestuft, ähnlich den Empfehlungen des kanadischen Roten Kreuzes. Sobald gefrorener Schnee zum Eiswachstum beiträgt, was ganz allgemein gefährlich ist, sollte man die minimale Eisdicken mindestens verdoppeln.
Messung der Eisdicke
Eine theoretische Schätzung der aktuellen Eisdicke auf Basis unseres Modells sollten wir natürlich überprüfen. Die direkteste Methode ist ein Loch im Eis, was aber nur punktuelle Messergebnisse bringt. Messungen mit Radar oder Ultraschall sind ebenfalls möglich, erfordern jedoch aufwendige Messtechnik. Bei klarem Eis gibt es aber eine einfach handhabbare Methode. Sie nutzt die Lichtbrechung und benötigt nur eine Kamera, etwa im Smartphone, so wie ein Vergleichsobjekt mit bekannten Abmessungen wie einen Schuh (Abbildung 1). Sie funktioniert immer dann, wenn es vertikale Korngrenzen von der Oberfläche bis an die Unterseite des Eises gibt, was oft der Fall ist. Erkennbar sind diese Grenzen daran, dass sie durch ihre abweichende Textur wie ein wieder zusammengefrorener Riss aussehen.
Diese häufig beobachtbaren, vertikalen Grenzflächen können wir nutzen, um die Eisdicke abzuschätzen. Abbildung 2 erklärt das Messprinzip. Ein Objekt der Breite |BE| und Höhe |BC| – etwa der erwähnte Schuh – wird unter dem Winkel φ zur Horizontalen beobachtet. Es befindet sich auf dem Eis der gesuchten Dicke z = |EH|, wobei entlang |EH| gleichzeitig eine Korngrenze verlaufe. Die Messung besteht darin, die zur Blickrichtung senkrechten Strecken |DE| und |GF| in einem Foto zu bestimmen. Erstere enthält die Objektmaße, zweitere die Eisdicke. Dabei sei die Kamera genügend weit entfernt, sodass die |DE| und |GF| begrenzenden Lichtstrahlen parallel durch die Linse gehen.
Der Winkel φ zur Horizontalen muss bekannt sein. Einen Winkel von 45° kann man ohne Hilfsmittel realisieren, indem man sich zunächst flach so auf das Eis legt, dass sich das Auge über der Korngrenze befindet. Die Stelle der Füße markiert man als Position des Fotografen. Danach fotografiert man das Messobjekt an der Korngrenze, zum Beispiel entweder den eigenen ausgezogenen Schuh oder besser den einer anderen Person. Die Lichtbrechung von H über F zum Auge wird durch den Einfallswinkel von Luft zum Eis von (90° – φ) beschrieben. Mit einem typischen Brechungsindex des Eises von 1,31, dem Brechungsgesetz und den Winkelbeziehungen der eingetragenen Dreiecke können die Messgrößen |DE| und |GF| mit der Eisdicke, den Winkeln φ und β sowie den Objektmaßen |BE| und |BC| verknüpft werden. In einer Messung ergibt sich k aus dem Verhältnis |GF| = k·|DE|, für Abbildung 1 mit dem Schuh als Vergleichsobjekt k ≈ 0,875. Für die Eisdicke erhalten wir dann
Im Beispiel der Abbildung 1 kann man bei |BE| ≈ 10 cm, |BC| ≈ 4 cm, k ≈ 7/8 = 0,875 und φ ≈ 45° eine Dicke von etwa 19 cm abschätzen. Aus Laborversuchen mit wohldefinierten Winkeln und Objektmaßen ergaben sich Fehler von etwa 1 bis 1,5 Prozent. In der Praxis dominiert der Winkelfehler: Bei Ungenauigkeiten von ±5° sollte die Eisdicke auf etwa ±15 Prozent genau bestimmbar sein – sofern die Objektmaße genau bekannt sind. Besser als der Schuh als Notlösung ist es, gleich ein Lineal auf den Ausflug mitzunehmen.
Michael Vollmer, Brandenburg, und Redaktion