27.03.2014

Billardspieler im Chaos

Der russische Mathematiker Jakow Sinai erhält den Abel-Preis 2014 für seine grundlegenden Beiträge zur mathematischen Physik.

Einen Nobelpreis für Mathematik gibt es zwar nicht, aber der seit 2003 durch die norwegische Akademie der Wissenschaften verliehene Abel-Preis, benannt nach dem norwegischen Mathematiker Niels Henrik Abel (1802 – 1829), kommt diesem sehr nahe. Während die Fields-Medaille seit 1936 nur alle vier Jahre an Mathematiker unter 40 verliehen wird, hat der Abel-Preis keine Altersbeschränkung und wird alljährlich für „Beiträge von außerordentlicher Tiefe und Einfluss auf die mathematischen Wissenschaften“ vergeben, verbunden mit einem Preisgeld von umgerechnet 750.000 Euro.

In diesem Jahr erhält ihn der russische Mathematiker Jakow Sinai „für seine grundlegenden Beiträge zu dynamischen Systemen, ergodischer Theorie und mathematischer Physik“. Sinai, der am Landau-Institut bei Moskau und der Universität Princeton arbeitet, hat maßgeblich dazu beigetragen, fundamentale und oft überraschende Zusammenhänge zwischen deterministischem und chaotischem Verhalten dynamischer Systeme aufzuspüren. Dafür entwickelte er die geeigneten wahrscheinlichkeits- und maßtheoretischen Mittel.

Seine Leistungen beinhalten maßgebliche Arbeiten zur Ergodentheorie, die versucht, mit wahrscheinlichkeitstheoretischen Methoden Aussagen über typische Trajektorien dynamischer Systeme zu machen. Dafür ist es nötig, das Verhalten von Trajektorien über lange Zeiten zu analysieren und charakterisieren.

Besonders relevant sind solche Untersuchungen, um Aussagen über Systeme zu gewinnen, deren Verhalten so kompliziert ist, dass sie sich einer exakten Vorhersage entziehen, selbst wenn sie prinzipiell deterministisch sind. Beispiele dafür sind die langfristige Wettervorhersage, die Bewegung der Himmelskörper, Meeresströmungen, physiologische Zyklen, Populationsdynamik oder Stromnetze.

Inspiriert von seinem Lehrer, dem bedeutenden Wahrscheinlichkeitstheoretiker Andrei Kolmogorow, hat Sinai ein Maß für die Zunahme der Unsicherheit pro Zeiteinheit bei der Beschreibung chaotischer Systeme entwickelt, die „Kolmogorov-Sinai-Entropie“. Darauf aufbauend ergaben sich große Fortschritte bei der genaueren Klassifizierung dynamischer Systeme.

Bekannt ist sein Name durch das „Sinai-Billard“, das er als erster gründlich analysierte und das seitdem zu den meistuntersuchten chaotischen Modellsystemen gehört. Es besteht aus einem quadratischen oder rechteckigen äußeren Rand und einer zentralen kreisförmigen Aussparung. Ein solches „Billard“ lässt sich als entsprechend gestalteter Mikrowellenresonator realisieren, dessen Eigenmoden untersucht werden.

Neben der Erforschung chaotischen Verhaltens hat Sinai weitere Pionierarbeiten in anderen Bereichen der mathematischen Physik geleistet, etwa zu Zufallsbewegungen („Sinai’s Walks“), Phasenübergängen (Pirogov-Sinai-Theorie), eindimensionaler Turbulenz, Renormalisierungs-Gruppentheorie (Bleher-Sinai) und dem Spektrum diskreter Schrödinger-Operatoren. Vieles davon gehört heutzutage zum Standardwerkzeug der mathematischen Physik.

Sinai gehört damit sicherlich zu den einflussreichsten Mathematikern des 20. Jahrhunderts, was die zahlreichen internationalen Preise belegen, die er bislang erhalten hat: Darunter sind der Leroy P. Steele-Preis für das Lebenswerk der American Mathematical Society (2013), den Poincaré-Preis der International Association of Mathematical Physics (2009), der Wolf-Preis für Mathematik (1997) und die Boltzmann-Goldmedaille (1986) der International Union of Pure and Applied Physics. Den Abel-Preis wird Jakow Sinai am 20. Mai in Oslo aus den Händen von Kronprinz Haakon von Norwegen in Empfang nehmen.

Alexander Pawlak
 

 

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