Biochemie oder Wille?
Der Philosoph Habermas und der Hirnforscher Singer über menschliches Handeln. Naturwissenschaft meets Philosophie.
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Habermas und Singer über menschliches Handeln
Marburg (dpa) - In großen theoretischen Debatten hat der Philosoph Jürgen Habermas noch nie gefehlt. Der wohl bekannteste lebende Denker Deutschlands bezieht Stellung, oft provokant. Das hat der 77-Jährige - bei aller Verschiedenheit ihrer Ansichten - mit dem Hirnforscher Wolf Singer gemeinsam. Auch Singer drückt sich nicht vor aktuellen Fragen und erregt mit seinen Antworten bisweilen Aufsehen. Am Freitagabend diskutierten Habermas und Singer im hessischen Marburg die Frage, ob der Naturalismus die Gesellschaft zum Umdenken bei Strafrecht und Erziehung zwingt.
Ist der freie Wille des Menschen eine Illusion? Wird unser Handeln gesteuert von unserem Gehirn? Was bedeutet es für Verantwortung und Schuld, wenn das, was wir tun, gar nicht das ist, was wir wollen? - Habermas' ungebrochenem Glauben an die Vernunft des Menschen stand Singers forschend gewonnene Überzeugung gegenüber, dass der freie Wille eine Fiktion ist, die biologisch gar nicht existieren kann. Weitere Redner waren die Rechtsphilosophen und Strafrechtler Reinhard Merkel (Univerisität Hamburg) und Jan C. Joerden (Universistät Frankfurt/Oder) sowie der Philosoph Carl Friedrich Gethmann (Universität Essen-Duisburg).
«Wir sind nicht frei zu wollen, was wir wollen», sagte Singer. Das Gehirn sei durch die Evolution festgelegt. «Unser Handeln ist ein Produkt neuronaler Prozesse», sagte der Direktor am Frankfurter Max- Planck-Institut für Hirnforschung. 20 Sekunden bevor ein Mensch sage, was er tun will, könne sein Handeln vorausgesagt werden. Doch auch wenn das Handeln des Menschen rein naturwissenschaftlich zu erklären sei, sei der Mensch für sein Tun verantwortlich. Denn bis zum 20. Lebensjahr bilde sich das Gehirn des Menschen aus, so dass durch Erziehung neue Verschaltungen im Gehirn gelegt werden könnten, die den Normen der Gesellschaft angepasstes Verhalten steuern könnten, sagte der 63-Jährige.
Habermas stellte dem entgegen: Wenn die naturwissenschaftliche These von der Illusion der Willensfreiheit stimme, dann stelle sich die Frage der Schuld nicht mehr. «Jeder Mensch kann aber erklären, warum er so und nicht anders gehandelt hat», sagte Habermas. Die Handlungsurheberschaft, wenn ein Mensch sage, warum er wie gehandelt habe, gehöre einem Lebensbereich, einem «Sprachspiel», an, dem nicht die naturwissenschaftliche Betrachtung des Gehirns angehöre.
Wenn das Handeln des Menschen allein durch neuronale Prozesse bestimmt werde, dann werde jeder «Strafprozess zum Roboterfußball», sagte der Philosoph Gethmann zu Singers naturalistischer These. Auch das, was Staatsanwalt und Richter sagten und entschieden, liege dann außerhalb ihrer Steuerung. Der Strafrechtler Joerden sagte: «Wenn man im Handeln die Freiheit nicht anerkennt, dass müssen im Strafrecht alle wie unzurechnungsfähig behandelt werden.» Der Mensch werde vom Subjekt zum Objekt, ein Angeklagter sei dann stets ohne Schuld. Dem schloss sich auch der Rechtsphilosoph Merkel an: «Für den Bruch von Normen muss ein Täter bezahlen, auch wenn er möglicherweise gar nicht anders handeln konnte.»
Ein klares Ja oder Nein auf die Frage der Podiumsdiskussion blieben die Redner ihrem Publikum schuldig. Sie stellten aber einhellig fest, dass in der Frage, ob das Handeln des Menschen durch freien Willen oder durch Biochemie determiniert ist, noch eine Menge Arbeit warte. Die Diskussion markierte den Abschluss des zweitägigen Jahreskongresses der Deutschen Gesellschaft für Philosophie, zu dem rund 150 Wissenschaftler und Studenten in die Universitätsstadt an der Lahn gekommen waren. Der Kongress stand unter dem Titel «Naturalismus und Menschenbild. Zur Rolle der Philosophie gegenüber den Naturwissenschaften».
Von Maria Panagiotidou, dpa
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