Das magnetische Moment des Myons
Physiker aus aller Welt verständigen sich auf gemeinsamen Vorhersagewert.
Seit vielen Jahren gibt es eine Abweichung zwischen dem experimentell gemessenen Wert des anomalen magnetischen Moments des Myons und seiner aktuellen theoretischen Vorhersage im Rahmen des Standardmodells der Teilchenphysik. Die letzte Messung wurde vor 15 Jahren am Brookhaven National Laboratory durchgeführt. Ziel weltweiter Forschungen ist es herauszufinden, ob diese Abweichung echt ist oder lediglich Folge systematischer Unsicherheiten in Theorie und Experiment. Dazu müssen beide Werte noch präziser als bisher bestimmt werden. Für die theoretische Vorhersage haben mehr als 130 Physiker weltweit nun erstmals einen gemeinsamen Standard gesetzt und sich auf einen neuen theoretischen Wert verständigt.
Das Myon ist eines der elementaren Teilchen im Standardmodell – bis auf die 200-mal größere Masse besitzt es ähnliche Eigenschaften wie sein leichter Verwandter, das Elektron. Das magnetische Moment des Myons ist durch quantentheoretische Effekte eine Winzigkeit größer als die berühmte Berechnung von Paul Dirac aus den 1920er-Jahren. Eine weitere Besonderheit: Aktuell lässt das magnetische Moment des Myons nach Berücksichtigung aller Quanteneffekte der elektromagnetischen, schwachen und starken Wechselwirkung eine Diskrepanz zwischen der Theorie des Standardmodells und dem Experiment stark vermuten. Das Rätsel um das anomale magnetische Moment des Myons ist eine der Schlüsselinitiativen des Exzellenzclusters Prisma+: Schlussendlich verbirgt sich dahinter die spannende Frage, ob es Abweichungen vom Standardmodell und damit Hinweise auf eine neue Physik jenseits des Standardmodells gibt. „In den Jahren seit der Brookhaven-Messung ist es nicht gelungen, die Situation letztlich zu klären“, beschreibt Hartmut Wittig, Sprecher von Prisma+, die aktuelle Situation. „Der Unterschied zwischen Theorie und Experiment ist zu klein, um daraus zweifelsfrei eine echte Abweichung abzuleiten und damit das Standardmodell zu falsifizieren. Dennoch ist er zu groß, um ihn einem Zufallseffekt zuzuschreiben.“
Aktuell erwartet die Forscher-Community mit Spannung das Ergebnis einer neuen Messung am Fermilab. Diese soll um den Faktor vier genauer sein als die bisherige Messung. Seit letztem Jahr ist die Prisma+-Arbeitsgruppe um Martin Fertl an diesem Experiment als offizieller Partner beteiligt. „Mit dieser Steigerung der Präzision müssen wir auch in der Theorie Schritt halten“, beschreibt Hartmut Wittig die Herausforderung. Zu diesem Zweck wurde im Jahr 2017 die Muon g-2 Theory-Initiative ins Leben gerufen, ein weltweiter Zusammenschluss von mehr als 130 Physikern, an der von Mainzer Seite Achim Denig, Harvey Meyer, Marc Vanderhaeghen und Hartmut Wittig sowie weitere Mitglieder ihrer jeweiligen Arbeitsgruppen beteiligt sind. Ihr Ziel ist es, alle Aspekte, die in die Berechnung einfließen, hinsichtlich ihrer Unsicherheiten zu bewerten und einen einzigen Wert zu empfehlen, mit dem neue experimentelle Ergebnisse verglichen werden sollten. „Das haben wir nun erreicht und unser Ergebnis kürzlich veröffentlicht“, kommentieren die Mainzer Wissenschaftler. „Verschiedene Ansätze, die bisher in unterschiedlichen Gruppen weltweit getrennt verfolgt wurden, münden nun in einen einzigen Vorhersagewert. Durch diese Synthese haben wir die bisher verlässlichste und präziseste Vorhersage für das anomale magnetische Moment des Myons erhalten.“
Der Wert für das anomale magnetische Moment des Myons setzt sich aus verschiedenen Bestandteilen zusammen. Die Effekte der starken Wechselwirkung sind dabei am schwierigsten verlässlich vorherzusagen und aktuell mit der größten Unsicherheit behaftet. Zwei spezielle Effekte – die hadronische Vakuumpolarisation und die hadronische Licht-an-Licht-Streuung – stehen daher im Fokus. Die Wissenschaftler nähern sich ihnen mit unterschiedlichen theoretischen Ansätzen; aktuelle Fortschritte in diesen Bereichen führen zu immer weiter verfeinerten Ergebnissen. Auch die experimentell gewonnenen Daten aus Streuexperimenten an Teilchenbeschleunigern sind für die theoretische Vorhersage ein wichtiger Input. Mainzer Physiker sind an fast all diesen Facetten und Aspekten beteiligt. Zudem ist auch mit dem neuen Referenzwert das letzte Wort aus ihrer Sicht noch nicht gesprochen und so arbeiten die Mainzer Gruppen intensiv daran, die aktuelle Vorhersage noch weiter zu präzisieren. Sie alle erwarten mit großer Spannung den neuen experimentellen Wert: „Dann werden wir hoffentlich sagen können, ob uns das Myon die Tür zu einer neuen Physik öffnet oder nicht.“
JGU Mainz / JOL