Das Schwerefeld der Erde im Visier
Die vor zwanzig Jahren gestartete Satellitenmission GRACE hat bedeutende Einblicke in das Klimasystem gegeben.
Wenn wir die Erde beobachten, wirkt sie auf den ersten Blick starr und unbeweglich. Doch das täuscht, denn ihre Massen sind ständig in Bewegung: Im Erdinneren verschiebt sich flüssiges Gestein, Wasser verteilt sich in den Ozeanen und auf den Kontinenten in riesigen Mengen um und auch Luftmassen verwirbeln sich ständig. Diese ungleiche Verteilung führt jeweils dazu, dass sich die Erdanziehungskraft nicht gleichförmig über den Erdball verteilt. An Stellen mit mehr Masse ist das Gravitationsfeld geringfügig stärker als an anderen.
Seit dem Start der beiden GRACE-Zwillingssatelliten „Tom“ und „Jerry“ und dem Beginn der GRACE-Mission des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR), der US-amerikanischen Weltraumbehörde NASA und des Geoforschungszentrums (GFZ) in Potsdam am 17. März 2002 und der Nachfolgemission GRACE-FO erfassen die Satellitenduos diese langsamen Bewegungen ganz genau. „Mit den GRACE-Satelliten können wir erstmalig die Massentransporte im System Erde global erheben. Die Missionen GRACE und GRACE-FO haben jede kleine Veränderung in diesen Masseströmen so präzise erfasst, dass Forscher zum Beispiel den Wasserhaushalt der Erde mit zuvor unerreichter Genauigkeit und Konstanz messen konnten. Durch diese Messungen können wir vor allem die Folgen des Klimawandels besser verstehen, weil sich zum Beispiel das Schmelzen der Eismassen, die Veränderungen des Meeres- sowie des Grundwasserspiegels exakter bestimmen lassen“, betont Walther Pelzer, Vorstandsmitglied des DLR und Leiter der Deutschen Raumfahrtagentur im DLR in Bonn.
Das Grönlandeis schmilzt – und zwar viel schneller als gedacht. Pro Jahr verliert dieses Eisschild 277 Gigatonnen an Masse. Eine Gigatonne entspricht einem Würfel von einem Kilometer Kantenlänge. „In den letzten zwanzig Jahren hat die grönländische Eisdecke rund 4,7 Billionen Tonnen Eis verloren. Dänische Forscher haben diese Erkenntnisse anhand der langen GRACE-Datenreihen gewonnen, die auch regelmäßig in die Berichte des Weltklimarates IPCC einfließen. Im letzten Bericht ist GRACE die am dritt-häufigsten zitierte Satellitenmission. Das unterstreicht die Bedeutung, die diese Mission für die Klimaforschung hat“, betont Walther Pelzer. Doch nicht nur die Eisschmelze ist ein wichtiger Klimaindikator.
Mehrmonatige Trockenperioden im Amazonas und drastische Abnahmen des Grundwasserspiegels im Norden Indiens konnten mit den GRACE-Daten ebenso zuverlässig beobachtet werden wie der Anstieg des Meeresspiegels über zwei Jahrzehnte. Außerdem ist aus den GRACE-Daten die sogenannte „Potsdamer Schwerekartoffel“ entstanden. Dieser Gravitationsglobus zeigt, dass das Schwerefeld der Erde nicht gleichmäßig verteilt ist. Dank dieses dreidimensionalen Geoids werden die Abweichungen der Erdgestalt deutlich sichtbar. Besonders stark ist der Einfluss der Schwerkraft demnach über dem Himalaja und dem Nordatlantik, dagegen eher schwach über dem Indischen Ozean und den Kleinen Antillen.
Doch wie genau messen diese Satelliten eigentlich die Massentransporte? Der Clou ist, dass Massen bei GRACE und GRACE-FO alleine anhand ihrer Schwerkraftwirkung erfasst werden. Die beiden Satelliten flogen beziehungsweise fliegen jeweils in einem mittleren Abstand von nur rund 220 Kilometern hintereinander her. Relative Distanz und Geschwindigkeit der beiden Satelliten werden dabei mithilfe von Mikrowellen und einem Laser ständig ganz exakt gemessen. Die Genauigkeit von ein bis zwei Mikrometern entspricht dabei etwa einem Hundertstel der Dicke eines Blattes Druckerpapier.
„Gestein und Wasser – egal ob in fester oder flüssiger Form – üben mit ihren Massen eine Gewichtskraft aus. Ist sie stärker, wird der voranfliegende Satellit beim Überflug von ihr angezogen. Dadurch wird er schneller und entfernt sich vom anderen Satelliten. Diese minimale Veränderung im gegenseitigen Abstand wird kontinuierlich über jeden Umlauf um die Erde gemessen. Geringere Massen beschleunigen den voranfliegenden Satelliten weniger und bewirken wieder eine Annäherung. Im übertragenen Sinne können wir mit den Satelliten wiegen, wie Eisschilde und auch die Kontinente von Monat zu Monat abnehmen oder zunehmen“, erklärt Peter Schaadt, GRACE-FO-Programmleiter in der Deutschen Raumfahrtagentur im DLR. Doch das Wiegen geschieht nicht im All, sondern anhand von komplizierten Rechenverfahren am Boden, wobei die minimalen Bewegungen der Satelliten im Erdorbit in Schwerefeldwerte übersetzt werden.
Nach dem Start der beiden GRACE-Satelliten am 17. März 2002 wurden Tom und Jerry in rund 500 Kilometern Höhe ausgesetzt. Schon etwa siebzig Sekunden später fand die erste Kontaktaufnahme mit der DLR-Bodenstation in Weilheim statt. Die ersten Daten der Satelliten wurden über ein Kommunikationsnetzwerk direkt und ohne Verzögerung zum Raumfahrtkontrollzentrum des DLR in Oberpfaffenhofen bei München geschickt. Dort begann dann die Akquisitionsphase der Satelliten.
Diese erste frühe Phase nach dem Start übernahm das Kontrollzentrum auch 2018 bei der Folgemission GRACE-FO, wie Sebastian Löw, Projektleiter des GRACE-FO Bodensegments vom DLR-Raumflugbetrieb und Astronautentraining, erzählt: „Wir haben die Bahnparameter bestimmt, den Zustand von GRACE analysiert, die Funktionsbereitschaft aller Systeme getestet sowie deren Konfiguration für ihre eigentlichen wissenschaftlichen Aufgaben. In der Akquisitionsphase haben wir außerdem die autonomen Bordsysteme zur Positions- und Lagebestimmung sowie die bordeigenen Sternsensoren und das Lageregelungssystem in Betrieb genommen.“ Die Betriebsaufgaben waren für beide Missionen, GRACE und GRACE-FO, identisch.
In den ersten beiden Wochen nach den Starts befahl das Betriebsteam dann jeweils mehrere Bahnmanöver, um den relativen Abstand der Satelliten auf 220 Kilometer einzustellen. Die Kontrolle dieses Formationsfluges erfordert regelmäßige Korrekturmanöver in Intervallen von einigen Wochen. Dafür und zur Satellitenkontrolle während der Mission werden die beiden Antennen der DLR-Bodenstation Weilheim genutzt – unterstützt in den ersten dreißg Tagen vom Polar-Netzwerk der NASA. Nach einer zweiwöchigen Testphase lag dann die Kontrolle und der Betrieb der beiden GRACE Satelliten in der Hand des Deutschen Raumfahrtkontrollzentrums. Alle empfangenen Daten wurden im Deutschen Fernerkundungsdatenzentrum (DFD) des DLR in Neustrelitz weiterverarbeitet, archiviert und an die wissenschaftlichen Auswertezentren verteilt.
Die Bedeutung der Klimazeitreihenmessungen von GRACE und GRACE-FO für die Klimaforschung ist essenziell. Deshalb arbeiten NASA, das DLR und das GFZ gemeinsam mit Max-Planck-Instituten an der Vorbereitung einer nächsten Mission, die die Beobachtungen im Anschluss an GRACE-FO fortsetzen soll. „Die Kooperation mit der NASA in der Erdbeobachtung ist ein großartiges Zeichen für die gemeinsamen Ziele, die die USA und Deutschland in der Klimapolitik verfolgen wollen“, unterstreicht DLR-Vorstandsmitglied Walther Pelzer. „Die Beauftragung des Satellitenbaus durch die NASA ist auch ein Zeichen für die Leistungsfähigkeit der deutschen Raumfahrtindustrie.
GRACE war eine gemeinsame Mission der NASA und des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR), die bis zum Jahr 2017 betrieben wurde und damit dreimal länger als ursprünglich geplant dauerte. Die wissenschaftliche Datenauswertung erfolgte durch die University of Texas und durch das Geoforschungszentrum Potsdam (GFZ). Der Betrieb oblag dem Deutschen Raumfahrtkontrollzentrum beim DLR in Oberpfaffenhofen und wurde finanziert vom DLR, der Deutschen Raumfahrtagentur im DLR mit Mitteln des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) und dem GFZ. Das JPL managte die Mission im Auftrag des NASA Science Mission Directorate in Washington. Die GRACE-Zwillinge wurden von Airbus in Friedrichshafen im Auftrag der NASA gebaut. Dort entstanden, wiederum NASA-finanziert, auch die Nachfolger für die Mission GRACE-FO, die seit ihrem Start am 22. Mai 2018 die Gravitationsmessungen fortsetzen.
DLR / DE