Das Zittern der Moleküle
Jean Perrin erhielt 1926 den Physik-Nobelpreis für den Nachweis, dass Materie aus Atomen besteht. Am 30. September jährt sich sein Geburtstag zum 150. Mal.
Ein Stummfilm aus dem Jahr 1923 zeigt Jean Perrin im schwarzen Anzug über sein Mikroskop gebeugt. In der nächsten Einstellung bewegen sich zitternde Kügelchen unterschiedlicher Größe durch das Bild. Der eingeblendete Text erklärt: „Die festgestellte innere Bewegung stimmt mit der alten Hypothese der Griechen überein, derzufolge alle Materie aus unsichtbaren Molekülen besteht, die sich unaufhörlich bewegen und zufällig aneinander stoßen.“ Es ist vielleicht einer der ersten Filme, die ein Wissenschaftler dreht, um andere von der Existenz eines unsichtbaren physikalischen Objekts zu überzeugen.
Als Jean Baptiste Perrin am 30. September 1870 in Lille geboren wird, ist sein Vater in preußischer Kriegsgefangenschaft. Er sieht seinen Sohn erst im April 1871. Drei Jahre später wird der Kriegsversehrte in den Ruhestand entlassen und zieht mit der Familie nach Lyon. Jean Perrin ist erst zehn Jahre alt, als der Vater stirbt und seine Frau mit einer schmalen Witwenrente und einem Tabakladen zurücklässt.
Dank eines staatlichen Stipendiums kann Jean das Gymnasium besuchen. Nach dem Abitur zieht es den begabten Schüler nach Paris, wo er die Aufnahmeprüfung für die renommierte École Normale Supérieure (ENS) besteht. Parallel dazu studiert der junge Perrin Physik und Mathematik an der Sorbonne. Prägend ist der Einfluss seines Lehrers Marcel Brillouin, der ihn mit Boltzmanns statistischer Mechanik bekannt macht.
Für seine Dissertation beschäftigt sich Perrin aber zunächst mit Kathodenstrahlen, die nicht zuletzt wegen der rätselhaften Leuchterscheinungen ein beliebtes Forschungsobjekt sind. 1895 kann er zeigen, dass es sich um einen negativ geladenen Teilchenstrahl handelt.
Als Röntgen im selben Jahr die Entdeckung der X-Strahlen bekannt gibt, bezieht Perrin sie in seine Doktorarbeit ein. Er charakterisiert sie als eine extrem kurzwellige Strahlung, die Gasmoleküle ionisieren kann. Für diese Arbeiten erhält er als einer der jüngsten Forscher den Joule-Preis der Physical Society of London. Nach seiner Promotion 1897 heiratet er und erhält kurz darauf einen Lehrauftrag für Physikalische Chemie an der Sorbonne.
In den folgenden Jahren erforschen Pierre und Marie Curie die Radioaktivität. Auch Perrin arbeitet zeitweise über Radioaktivität und Fluoreszenz, aber sein Hauptinteresse gilt bald dem experimentellen Nachweis von Atomen und Molekülen.
Die Affäre Dreyfus im Jahr 1898 schweißt Jean Perrin mit einem Kreis von gleichgesinnten linken Wissenschaftlern und Intellektuellen zusammen, unter ihnen Paul Langevin und das Ehepaar Curie. Die Gruppe verbringt bald nicht nur die Sommerferien in der Bretagne zusammen, sondern beschließt auch, ihre Kinder gemeinsam privat zu unterrichten.
1901 schlägt Perrin als erster ein Atommodell vor, das dem Sonnensystem nachgebildet ist. Es wird später von Ernest Rutherford und Niels Bohr weiter entwickelt. Im selben Jahr verfasst Perrin eine Abhandlung über Physikalische Chemie, in der er Boltzmanns Theorie als Grundlage für das atomistische Weltbild darstellt. Noch fehlt ihm jedoch eine experimentelle Methode zum Nachweis der Moleküle. Erst 1903 wird ein Mikroskop erfunden, das es erlaubt, winzige Teilchen mithilfe von Lichtstreuung zu beobachten.
Zwischen 1907 und 1909 untersucht Perrin die Brownsche Molekularbewegung in Kolloiden und kann zeigen, dass die Teilchen sich darin genauso wie die von Boltzmann beschriebenen Gaspartikel verhalten. Insbesondere demonstriert er, dass Harz-Partikel sich im Schwerefeld der Erde analog zur barometrischen Höhenformel verteilen. Perrin kann daraus nicht nur das Sedimentationsgleichgewicht bestimmen, sondern auch einen Wert für die Avogadro-Zahl errechnen. Dieser stimmt sehr gut mit den Werten überein, die auf anderen Wegen gefunden worden sind.
Erst später erfährt Perrin, dass Einstein bereits 1905 die Brownsche Molekularbewegung mit einer Formel beschrieben hat, aus der sich die Avogadro-Zahl ableiten lässt. Als Perrin die Formel experimentell überprüft, bemerkt er einen Rechenfehler Einsteins.
1910 erhält er eine Professur an der Sorbonne. Beim ersten Solvay-Kongress 1911 in Brüssel, einem Treffen der bedeutendsten zeitgenössischen Physiker und Chemiker, überzeugt Perrin durch seinen klaren Vortrag auch die letzten Skeptiker wie Henri Poincaré von der Realität der Atome. In den folgenden Jahren erhält er zahlreiche Preise und Ehrendoktorwürden, die 1926 im Nobelpreis gipfeln.
Zu Perrins Popularität trägt auch sein 1913 erschienenes Buch „Les Atomes“ bei, das in mehrere Sprachen übersetzt wird, sowie der eingangs erwähnte Stummfilm, den Perrin 1923 dreht. Es ist das Jahr, in dem er in die Académie des Sciences aufgenommen wird.
In den 1920er-Jahren gründet Jean Perrin mithilfe von Stiftungsgeldern zwei universitäre Institute. Sein Institut für Physikalische Chemie entsteht benachbart zu Marie Curies Radium-Institut. Gemeinsam mit einem Chemiker realisiert er außerdem ein Institut für physikalisch-chemische Biologie, das 1930 fertiggestellt wird.
Jean Perrin engagiert sich zunehmend in der Wissenschaftspolitik. Er überzeugt die französische Regierung, einen Wissenschaftsetat mit einem Budget von fünf Millionen Francs einzurichten. 1936 leitet er im Bildungsministerium das neu eingerichtete Sekretariat für Forschung. In den folgenden Jahren bringt er die Gründung des astronomischen Observatoriums in der Haute Provence (1936), des Wissenschaftsmuseums „Palais de la découverte“ (1937) und des CNRS (1939) mit auf den Weg.
Wie viele linke Intellektuelle sieht Perrin die Machtergreifung Hitlers kritisch. 1934 schließt er sich, ebenso wie Paul Langevin, einer antifaschistischen Gruppierung an, bleibt aber auf Distanz zum Kommunismus. Im Juni 1940 flieht er vor der anrückenden deutschen Armee mit anderen Regierungsmitgliedern nach Bordeaux.
Von dort aus schifft sich die Gruppe nach Casablanca ein, wo sie eine Exilregierung bilden will. Die örtlichen Behörden haben sich jedoch dem Marschall Pétain angeschlossen und schicken die Politiker nach Frankreich zurück. Perrin, der auf freiem Fuß bleibt, flüchtet nach Lyon. Im Dezember 1941 folgt er seinem Sohn Francis nach New York. Dort stirbt er drei Monate später, am 28. März 1942, im Alter von 71 Jahren.
Anne Hardy
Weitere Infos
- Nobelpreis für Physik 1926: Jean Baptiste Perrin
- Filme zur Brownschen Molekularbewegung und Seifenblasen, aufgenommen von Jean Perrin (nachträglich anhand der Aufzeichnungen von Perrin vertont)
- J. Renn, Die atomistische Revolution. Oder: Wie Einstein die Brownsche Bewegung erfand (Physik Journal, März 2005, S. 53) PDF
- Ausführliche Informationen zu Jean Perrin, insbesondere zu seiner wissenschaftlichen Arbeit: Eintrag in der französischen Wikipedia
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AP