Der indische Quantenstatistiker
Vor fünfzig Jahren starb der indische Physiker Satyendranath Bose.
Anne Hardy
Satyendranath Bose war 22 Jahre alt, hatte Frau und Kind – und war arbeitslos. Ein Jahr zuvor hatte er als Bester seines Jahrgangs das Master-Studium in Mathematik am Presidency College in Kalkutta abgeschlossen, das damals zu Britisch-Indien gehörte. Sein Versuch, bei dem Mathematiker Ganesh Prasad zu promovieren, war gescheitert, weil Bose dem selbstgerechten Professor widersprochen hatte. Boses Bewerbungen für einen Job als Lehrer und an einer meteorologischen Station wurden abgelehnt, weil er überqualifiziert war.
Bose, geboren am 1. Januar 1894, kam aus einer Familie, die bereits seit zwei Generationen im britischen Bildungssystem groß geworden war. Sein Vater hatte als Buchhalter bei den East India Railways gearbeitet, bevor er 1903 eine chemisch-pharmazeutische Fabrik gründete. Er war überzeugt, dass die Zukunft Indiens in Wissenschaft und Technik lag. Auch sein Sohn war von der nationalistischen Bewegung beeinflusst. 1905 hatten die Briten versucht, diese mit der Teilung Bengalens einzudämmen, aber das Gegenteil erreicht.
Als Satyendranath Bose mit 15 Jahren an das Presidency College in Kalkutta kam, widmete er sich vor allem den Naturwissenschaften. Er unterstützte die nationale Widerstandsbewegung, versprach aber seinem Vater, seine akademische Karriere nicht zu gefährden. Als einziger Sohn hatte er auch Verantwortung für seine sechs jüngeren Schwestern. Bose war ein ausgezeichneter Student, der durch seine mathematische Begabung auffiel. Sein Lehrer prophezeiten, er würde ein zweiter Laplace oder Cauchy.
Als ein Mann zwischen Tradition und Moderne hatte Bose sich den Wünschen seiner Familie gebeugt und, wie damals üblich, während der College-Zeit geheiratet. Eine Mitgift, die ihm ein weiteres Studium im Ausland ermöglicht hätte, hatte er aber abgelehnt. Stattdessen hatte er sich und seine Familie bereits ein Jahr mit Privatstunden über Wasser gehalten und mit seinem Studienfreund Meghnad Saha der gemeinsamen Leidenschaft für theoretische Physik gefrönt, als ein verlockendes Angebot eintraf.
An der Universität seiner Heimatstadt sollte ein „University College of Science“ angegliedert werden, um moderne Physik zu lehren. Der Vorschlag stammte von einem weiteren arbeitslosen College-Freund Boses, Sailen Gosh. Doch Gosh hatte mehr versprochen, als er zu diesem Zeitpunkt halten konnte. Denn die Freunde hatten zwar von der neuen Physik von Planck, Einstein und Bohr gehört, sich aber nicht eingehend damit befassen können. Im Jahr 1916 war Indien wegen des Ersten Weltkrieges von ausländischen Fachzeitschriften und Büchern so gut wie abgeschnitten.
Der Vizekanzler der Universität gab ihnen ein Jahr Zeit, sich in die neue Materie einarbeiten – Bose sollte die Relativitätstheorie studieren und Saha die Quantentheorie. Beim Beschaffen der Literatur half ihnen ein glücklicher Zufall. Der Deutsche Botaniker Dr. P. J. Bruhl, der nach einem Fachwechsel zu Physik und Ingenieurwissenschaften am Bengal Engineering College unterrichtete, besaß eine Sammlung der neusten Fachaufsätze und Bücher wie Plancks „Theorie der Wärmestrahlung“ und Laues „Relativitätsprinzip“. Gemeinsam machten sich Bose und Saha daran, die deutschen Texte zu verstehen.
Ihre relative Isolation von der europäischen Fachwelt hatte einen Vorteil: Sie nahmen Einsteins Lichtquantenhypothese aus dem 1905 von vornherein ernst. So berechnete Saha den Strahlungsdruck des Lichts und publizierte seine Ergebnisse 1919 im Astrophysical Journal. In Europa betrachteten die meisten Physiker Licht zu dieser Zeit nicht als Teilchen, selbst nachdem Einsteins Arbeit 1921 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden war.
Als die Expedition von Sir Arthur Eddington 1919 die Allgemeine Relativitätstheorie bestätigte und diese in aller Munde war, fertigten Bose und Saha die erste englische Übersetzung von Einsteins Aufsätzen zur speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie an. 1921 erhielt Bose eine Dozentenstelle an der neu gegründeten Universität Dacca in West-Bengalen, wo er moderne Physik lehrte. Doch gerade als der erste Jahrgang von Bachelor-Studenten abschloss, kam es zu einem Konflikt zwischen der indischen Regierung und der Provinz-Regierung von West-Bengalen, die erneut Boses Existenzgrundlage bedrohte. Während dieser unsicheren Zeit verfasste er seine wichtigste Arbeit.
Durch die Diskussionen mit Saha, die sich während der Übersetzung von Einsteins Arbeiten ergaben, erkannte Bose die Notwendigkeit, für das Plancksche Strahlungsgesetz eine saubere quantenphysikalische Herleitung zu finden. Er nahm an, dass es sich bei der gequantelten Energie um reale Teilchen handelte, die sich wie ein ideales Gas verhielten. Dabei entdeckte er, dass sich die korrekte Energieverteilung nur ergab, wenn die Lichtteilchen einem anderen statistischen Gesetz gehorchten als beispielsweise der Münzwurf.
Nachdem Bose seine Ergebnisse Anfang 1924 an das britische Philosophical Magazine gesendet und nach sechs Monaten Wartezeit eine Absage erhalten hatte, sandte er sein Manuskript im Juni 1924 direkt an Einstein. Dieser antwortete ihm mit einer Postkarte vom 2. Juli 1924: „I have translated your paper and given it to Zeitschrift für Physik. It signifies an important step forward and pleases me very much.“ Der Ansatz von Bose inspirierte ihn dazu, die Statistik auch auf Gase anzuwenden. Bereits eine Woche nach Erhalt von Boses Arbeit stellte er diese Überlegungen in der Preußischen Akademie der Wissenschaften vor. Zwei weitere Arbeiten folgten. Einstein konnte zeigen, dass Materie in Form von Gasteilchen sich wie Wellen verhalten kann. Während er sich noch den Kopf darüber zerbrach, was dies zu bedeuten habe, erreichte ihn ein Brief Paul Langevins aus Paris, der ihm die Arbeit seines Doktoranden Louis de Broglie schickte. Der Franzose wollte wissen, ob die Idee, Elektronen als Wellen zu betrachten, ein Geniestreich oder vollkommen verrückt war.
Das war die Bestätigung, die Einstein brauchte. Er begriff die weitreichenden Folgen von Boses Ansatz und sagte in seiner zweiten Arbeit voraus, was heute als Bose-Einstein-Kondensat bekannt ist. Dessen Existenz wiesen 1995 die beiden Amerikaner Eric A. Cornell und Carl E. Wieman sowie der Deutsche Wolfgang Ketterle nach, die dafür 2001 den Nobelpreis für Physik erhielten. 1926 schrieb Erwin Schrödinger an Einstein, dass seine Wellenmechanik nicht denkbar gewesen wäre, wenn Einstein in seiner zweiten Publikation zur Bose-Statistik nicht auf die Bedeutung von de Broglies Ergebnissen hingewiesen hätte. Bezeichnenderweise wurde 1926 auch der Begriff „Photon“ geprägt. Der Welle-Teilchen-Dualismus war in der Physik etabliert.
Ebenfalls 1926 publizierte Wolfgang Pauli das nach ihm benannte Ausschließungs-Prinzip und Enrico Fermi analysierte die Statistik von Teilchen, die diesem gehorchen. Wenige Monate später untersuchte Paul Dirac die Statistik der „Bosonen“ und „Fermionen“, wie er sie nannte, unter dem Aspekt der Symmetrie-Eigenschaften ihrer quantenmechanischen Eigenfunktionen.
Für Bose ebnete Einsteins Postkarte den Weg zu einem zweijährigen Stipendium, das ihn zuerst nach Paris und dann nach Berlin zu Einstein führte. In Paris lernte er im Labor von Maurice de Broglie Röntgenkristallographie kennen. Er traf Paul Langevin und Marie Curie. Als er im Oktober 1925 nach Berlin kam, herrschte große Aufregung über die neuen Entwicklungen in der Physik. Er hörte einen Vortrag Heisenbergs zur Unschärfe-Relation, ein Kolloquium über den Elektronenspin und diskutierte mit Einstein über Schrödingers Wellenmechanik. Er verbrachte einige Monate am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin-Dahlem, wo er mit Hermann Mark zur Röntgenkristallographie arbeitete. Als er seine eigenen Arbeiten im Seminar vortrug, erklärte Max von Laue, er sei mit der Materie nicht genügend vertraut und bat Einstein um einen Kommentar. Nachdem dieser erklärt hatte, er halte Boses Arbeit für eine der besten aus den letzten Jahren, folgte eine angeregte Diskussion über mehrere Stunden. Bose freundete sich schnell mit Eugene Wigner und Leo Szilard an; Hermann Mark erinnert ihn als einen gut gelaunten Menschen, der zu Witzen aufgelegt war und gern deutsche Lieder sang.
Bose nahm an der weiteren Entwicklung der QED nicht teil, sondern folgte Einstein in seinen Bemühungen um die Vereinheitlichung der Feldtheorien. In den letzten 20 Jahren seines Lebens widmete sich Bose vor allem der Lehre und der Popularisierung. Er war nach der Rückkehr in seine Heimat hoch angesehen „Ich war wie ein Komet, der einmal vorbeifliegt und dann nie wieder kommt“, urteilte er über sich selbst. Dennoch wurde er zwischen 1956 und 1962 viermal für den Nobelpreis nominiert.
Satyendranath Bose scheint nicht bedauert zu haben, diesen nicht erhalten zu haben. Er sagte: „Ich habe alle Anerkennung erhalten, die ich verdiene.“ Der indische Quantentheoretiker Dipankar Home würdigte Boses Leistung zu dessen 100. Geburtstag: „Seine größte Leistung bestand darin, aus dem Sammelsurium von Ideen, das damals die Quantentheorie der Strahlung ausmachte, eine mathematische Beschreibung der Lichtquanten zu erstellen, die alles zu einem kohärenten Ganzen verband.“
Quellen und weitere Informationen
- Jagdish Mehra, Satyendra Nath Bose, in: Biographical Memoirs of Fellows oft he Royal Society 21, November 1975
- J. J. O'Connor und E. F. Robertson, Satyendranath Bose (MacTutor History of Mathematics)
Weitere Beiträge
- W. Petrich, Bose-Einstein-Kondensation eines nahezu idealen Teilchengases. Physikalische Blätter 52, 345 (1996) PDF
- W. Ketterle, Bose-Einstein-Kondensate – eine neue Form von Quantenmaterie, Physikalische Blätter 53, 677 (1997) PDF
- Buch-Tipp: Kameshwar C. Wali (Hrsg.): Satyendra Nath Bose: His Life and Times – Selected Works (with Commentary), World Scientific Publishing, Singapur (2009)