29.09.2005

Der Meniskus-Trick des Wasserläufers

Für Wasserläufer ist der Meniskus am Rand einer Wasseroberfläche kein Hindernis - sie rutschen ihn einfach hinauf!


Der Meniskus-Trick des Wasserläufers

Für Wasserläufer ist der Meniskus am Rand einer Wasseroberfläche kein Hindernis - sie rutschen ihn einfach hinauf!


In der Welt der millimetergroßen Lebewesen ist manches anders als in unserer Welt: Die Luft ist eine Flüssigkeit, flüssiges Wasser ist fast so zäh wie Honig und auf seiner Oberfläche lässt es sich bequem herumspazieren. Einige Insekten und Spinnen haben die Kunst des Wasserlaufens perfektioniert. Ohne in das Wasser einzutauchen, drücken ihre wasserabweisenden Beinchen die Wasseroberfläche soweit ein, bis die Oberflächenspannung dem Körpergewicht die Waage hält. Um voranzukommen, erzeugen diese Tiere mit ihren Beinen kleine Wirbel im Wasser (ähnlich den Wirbeln hinter einem Ruderboot), die die Impulsänderung aufnehmen. Das hatten John Bush und seine Kollegen am MIT vor zwei Jahren herausgefunden.

Doch eine Wasseroberfläche, die uns Menschen glatt erscheint, ist für Insekten und Spinnen alles andere als eben. Der Rand der Wasseroberfläche sowie jedes eintauchende Blatt oder Stöckchen ist von einem Meniskus umgeben. In der Nähe eines festen Objekts, das in das Wasser eintaucht und von ihm benetzt wird, führen Kapillarkräfte dazu, dass die Wasseroberfläche nach oben gekrümmt ist. In dieser knapp 3 Millimeter breiten Zone türmt sich das Wasser zu einem Wall. Während größere, auf dem Wasser laufende Tiere diesen Wall übersteigen können, ist er für kleinere Wasserläufer ein scheinbar unüberwindliches Hindernis. Frühere Beobachtungen haben indes gezeigt, dass kleine Wasserläufer und andere Insekten den Meniskus sehr wohl überwinden können, indem sie ihn scheinbar mühelos hinaufgleiten. Wie machen sie das? Dieser Frage sind jetzt John Bush und seine Mitarbeiter nachgegangen.



Einen ersten Hinweis auf die richtige Antwort erhält man durch einen Blick in eine gefüllte Kaffeetasse. Kleine Luftbläschen, die auf der Flüssigkeitsoberfläche schwimmen und jeweils von einem aufwärts gekrümmten Meniskus umgeben sind, ziehen einander an und werden auch von der Wand der Tasse angezogen. Hier sind seitlich wirkende Kapillarkräfte am Werke. Immer wenn sich zwei aufwärts gekrümmte Menisken zu nahe kommen, gibt es eine anziehende Kraft. Legt man hingegen vorsichtig eine Büroklammer auf die Flüssigkeitsoberfläche, dann wird sie vom Rand der Tasse abgestoßen. Das Zusammentreffen des abwärts gekrümmten Meniskus der Büroklammer und des aufwärts gekrümmten Meniskus an der Tassenwand führt zu abstoßenden Kapillarkräften. Ein Wasserläufer, der mit seinen Beinchen die Wasseroberfläche eindrückt, würde also vom (aufwärts gekrümmten) Meniskus am Rand der Wasseroberfläche abgestoßen.

Videoaufnahmen mit einer Hochgeschwindigkeitskamera brachten des Rätsels Lösung: Wasserläufer können mit ihren Beinchen die Wasseroberfläche nicht nur eindrücken sondern auch geringfügig hochziehen. Dazu haben sie an den Enden ihrer Beine hydrophile Klauen, die normalerweise zurückgezogen sind, um die Tiere beim Wasserlaufen nicht zu behindern. In der Nähe eines Meniskus, den das Tier überwinden will, werden diese Klauen am vorderen und hinteren Beinpaar ausgefahren, während das mittlere Beinpaar wasserabweisend bleibt und den nötigen "Auftrieb" gibt. Vor allem mit den jetzt hydrophilen Vorderbeinen hebt das Tier die Wasseroberfläche ein wenig an und erzeugt so einen kleinen aufwärts gekrümmten Meniskus, der es ihm ermöglicht, den Meniskus am Rand der Flüssigkeitsoberfläche hoch zu rutschen.

Die Forscher haben ihre plausible Erklärung auch quantitativ überprüft. Anhand der Videoaufnahmen bestimmten sie die Geschwindigkeiten, mit denen die Wasserläufer den Meniskus hoch gerutscht waren. Diese Geschwindigkeiten betrugen einige Zentimeter pro Sekunde und nahmen beim Hinaufgleiten schnell zu. Die theoretisch zu erwartenden Gleitgeschwindigkeiten der Wasserläufer berechneten die Forscher mit Hilfe der Young-Laplace-Gleichung, die die Kräfte an einer Flüssigkeitsoberfläche mit der Oberflächenkrümmung in Zusammenhang bringt. Gemessene und berechnete Geschwindigkeiten stimmten sowohl in ihrer Größe als auch in ihrem zeitlichen Verlauf hervorragend überein.

Die kleinen Wasserläufer sowie andere Insekten und auch Spinnen können also einen Meniskus erklimmen, ohne sich dabei bewegen zu müssen, indem sie die Wasseroberfläche deformieren. Dazu müssen sie sich allerdings kräftig gegen die Oberflächenspannung anstemmen. Die Energiebilanz fassen die Forscher so zusammen: Die Muskelanspannung wird in Oberflächenenergie umgewandelt, die das Hinaufgleiten der Tiere antreibt. Wenn es für ein biologisches Problem eine physikalische Lösung gibt - die Evolution findet sie.

Rainer Scharf

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