Ebbe und Flut auf den Kontinenten
Die Gezeiten der Ozeane kennt jeder, doch auch die feste Erde ist ihnen unterworfen.
Schon vor 50 Jahren war es möglich, mit Schwerebeschleunigungsmessern den Abstand des Erdmittelpunktes von der Oberfläche als Funktion der Zeit zu bestimmen. Auf diese Weise fanden Geophysiker heraus, dass sich der amerikanische Kontinent im Rhythmus der Gezeiten um etwa 30 cm hebt und senkt. Neun Zehntel dieser Bewegung geht direkt auf die Gravitationswirkung von Sonne und Mond zurück, der Rest wurde den Auswirkungen ozeanischer Gezeiten zugeschrieben. Heute überwacht der International Geodynamics and Earth Tide Service die Gezeiten des festen Erdkörpers.
Die Erdgezeiten haben den größten Anteil an den zeitlichen Variationen der Schwerebeschleunigung, die mit Gravimetern gemessen werden. Für eine starre Erde lassen sich diese Variationen aus dem Newtonschen Gravitationsgesetz mit Hilfe der Ephemeriden von Mond und Sonne sowie den Planeten unseres Sonnensystems berechnen. Die feste Erde reagiert auf diese Gravitationskräfte mit einer elastischen Deformation der Erdkruste, deren vertikaler Anteil ebenfalls mit Gravimetern beobachtet wird: Je höher das Gravimeter, desto geringer ist die Schwerebeschleunigung.
Auf Grundlage von Schwerebeobachtungen wurden in den 1980er Jahren Erdmodelle entwickelt, die den Zusammenhang zwischen starrer und elastischer Erde mit Hilfe von Proportionalitätsfaktoren, den Loveschen und Shidaschen Zahlen, abbilden. Die Größe der Gezeiteneffekte ist abhängig von der geographischen Breite zunehmend zum Äquator und abnehmend zu den Polen. Heutzutage haben diese Modelle ein vernachlässigbares Unsicherheitsbudget und werden zur konventionellen Reduktion aller geodätischen Erdbeobachtungen benutzt.
Die Ozeangezeiten beeinflussen Schwerebeobachtungen auf den Kontinenten, hervorgerufen durch Ebbe und Flut an den gezeitenbeeinflussten Küsten. Diese ozeanischen Auflasteffekte nehmen mit zunehmender Entfernung von der Küste rasch ab. Die elastische Deformation der Erdkruste ist aber auch 1000 km und weiter entfernt von der Küste noch spürbar – zumindest für hochgenaue Gravimeter. Die Berechnung der ozeanischen Auflasteffekte folgt auch heutzutage noch der fundamentalen Theorie von W. E. Farrell von der University of Colorado aus dem Jahre 1972 über Lovesche Zahlen für die Auflast und Greensche Funktionen. Insgesamt sind die Effekte der Ozeangezeiten wesentlich heterogener, verglichen mit den Erdgezeiten. Insbesondere in der Nähe von Randmeeren und an Küsten kommt es bei der modellhaften Reduktion geodätischer Erdbeobachtungen auch heutzutage noch zu signifikanten Unsicherheiten.
Zur kontinuierlichen Beobachtung zeitlicher Schwerevariationen werden seit den 1990er Jahren supraleitende Gravimeter eingesetzt, die sich durch eine sehr hohe Präzision von 10-11 m/s² und ein sehr zeitstabiles Verhalten auszeichnen. Damit gelingt – neben der Verbesserung von Gezeitenmodellen – die Aufdeckung einer Vielzahl geodynamischer Phänomene ganz unterschiedlicher Perioden und Amplituden. Diese reichen von Eigenschwingungen der Erde bis hin zu langzeitlichen Grundwasseränderungen.
In den 1990er Jahren kam es zum ersten koordinierten weltweiten Zusammenschluss zahlreicher gravimetrischer Observatorien im Rahmen des Global Geodynamics Project (GGP). Im Jahre 2015 wurde daraus der International Geodynamics and Earth Tide Service der International Association of Geodesy (IGETS), ein Zusammenschluss von zurzeit 60 Gravimetern auf 40 Stationen mit Beobachtungszeitreihen von bis zu 25 Jahren.
Christian Voigt, GeoForschungsZentrum Potsdam
Dieser Artikel ist in der aktuellen Ausgabe von Physik in unserer Zeit erschienen.
Originalveröffentlichung
C. Voigt, Ebbe und Flut auf den Kontinenten, Phys. Unserer Zeit 51(6), 305 (2020); https://doi.org/10.1002/piuz.202070609