27.08.2024

Einzigartige Messstation für Erdbeben

Multiparamenter-Bohrloch-Station nimmt am Marmarameer seinen Betrieb auf.

Nach mehrwöchigen Bohr­arbeiten, erfolg­reicher Installation und abgeschlossener Testphase hat das Deutsche Geoforschungs­zentrum GFZ jüngst eine weltweit einmalige Messtation auf der Kapidag-Halbinsel im Nordwesten der Türkei in Betrieb genommen. Die Multi­paramenter-Bohrloch-Messstation befindet sich am Marmarameer rund hundert Kilometer Luftlinie von Istanbul entfernt. Sie registriert sämtliche Deformations­prozesse über langsames Kriechen von Erdplatten bis hin zu klassischen Erdbeben. Darüber hinaus zeichnet sie auch Porenfluiddruckdaten auf. Ziel ist es, die Bewegungen der Eurasischen und der Anatolischen Kontinental­platten unterhalb des Marmara­meeres mit modernster Messtechnik und bisher nicht erreichter Genauigkeit zu überwachen.

Abb.: Dieses internationale Team teufte die Testbohrung Kapidag-1 bis in 120...
Abb.: Dieses internationale Team teufte die Testbohrung Kapidag-1 bis in 120 Meter Tiefe ab.
Quelle: GFZ

Gemeinsam mit dem türkischen Katastrophen­schutz AFAD betreibt das GFZ seit vielen Jahren das bohrloch­gestützte Observatorium Gonaf (Geophysical Obser­vatory at the North Anatolian Fault) in der Istanbul-Marmara­region. In unmittel­barer Nähe zur Metropolregion Istanbul mit mehr als sechzehn Millionen Einwohnern, erwarten Forschende ein starkes Erdbeben mit einer Magnitude größer als 7. „Statistisch gesehen ist so ein Megabeben überfällig“, sagt Gonaf-Leiter Marco Bohnhoff. „Das Problem ist, dass wir nicht wissen, wann es kommt – morgen, in den nächsten Monaten oder erst in zwanzig, dreißig Jahren.“ Die hohe Gefährdung betrifft eine Region von enormer Bedeutung, nicht nur der Millionen Menschen wegen: Die Unternehmen und Arbeits­plätze in und um Istanbul machen etwa vierzig Prozent der türkischen Wirtschafts­kraft aus. 

Das seit 2015 bestehende Gonaf-Observatorium hat dort bereits eine Reihe von Schlüssel-Beo­bachtungen geliefert. So gelang es, die Erdbeben-Lücke entlang der eurasisch-anatolischen tektonischen Plattengrenze systematisch zu unterteilen. Von einer Lücke sprechen Seismologen, wenn ein Bereich einer aktiven Plattengrenze oder geologischen Störung während des tek­tonischen Lade­prozesses über Jahrzehnte Energie sammelt und dabei ruhig bleibt. Je länger dieser Prozess dauert, desto mehr Energie wird aufgestaut, die sich dann auf einen Schlag entladen kann. Im Fall der nord­anatolischen Störung gibt es so eine aktuell überfällige Lücke unterhalb des Marmarameeres. 

Mit Hilfe von Gonaf-Messungen konnte diese Lücke dezidiert entschlüsselt werden: Der östlicher Teil dieser Lücke unmittelbar südlich von Istanbul ist komplett verhakt. Dem gegenüber gleiten beide Erdplatten weiter westlich fast still und leise aneinander vorbei. Marco Bohnhoff sagt: „Die angestaute tektonische Energie ist damit unter dem östlichen Marmara­meer maximal. Das hat entsprechende Auswirkungen auf die Berechnung der Szenarien im Fall des überfälligen Starkbebens und dessen Folgen auf das Stadtgebiet Istanbuls.“ Das Observatorium hatte sich bisher mit insgesamt sieben Standorten auf die östliche Marmara­region konzentriert. Die seismische Lücke, entlang derer sich das nächste Starkbeben mit hoher Wahr­scheinlichkeit ereignen wird, erstreckt sich allerdings über das gesamte Marmarameer von Ost nach West zwischen den letzten beiden Megabeben der Region, dem Izmit-Erdbeben 1999 und dem Ganos-Erdbeben 1912. Istanbul liegt genau dazwischen. 

Um die gesamte kontinentale Plattengrenze unterhalb des Marmara­meeres mit optimierter Messgenauigkeit zu überwachen, wurde eine Erweiterung Richtung Westen beschlossen. Deren Umsetzung hat mit der neuen Station auf der Halbinsel Kapidag begonnen. Dort sind nun in einer einzigen 120 Meter tiefen Bohrung neueste Breitband-Seismometer-Sensoren, Deformations­messgeräte mit einer bisher nicht erreichten Sensitivität von nur einem hundertstel Atom­durchmesser Genauigkeit und Dilatometer zur Erfassung von Dehnungs­prozessen vereint. Komplettiert wird die Sensorik durch herkömmliche Geophone. Patricia Martinez-Garzon, die Gonaf gemeinsam mit Marco Bohnhoff koordiniert: „Dadurch können wir das gesamte Spektrum an Deformationsprozessen in nur einer Bohrung überwachen – dies gibt es so bisher nirgends.“ Hinzu kommt eine zweite Bohrung an gleicher Stelle, in der ein Porendruck­sensor auftretende Druckwellen erfasst. Sämtliche Daten werden in Echtzeit parallel nach Potsdam und nach Ankara übermittelt. 

Ziel ist es, ein neuartiges prognose­basiertes Erdbeben­frühwarnsystem für den Raum Istanbul zu entwickeln. Dieses zielt darauf ab, eventuelle vor einem starken Erdbeben auftretende Signale voll­automatisch zu analysieren und dann den türkischen Behörden zu übermitteln, um gegebenen­falls Warnungen auszusprechen. Dies ist von kritischer Bedeutung, weil aufgrund der geringen Entfernung von nur wenigen Zehner-Kilometern zwischen der Marmara-Störungszone und dem Ballungsraum Istanbul der Einsatz von klassischen Erdbeben-Frühwarn­systemen bestenfalls wenige Sekunden Zeit für eine Warnung ließe. Weitere Standorte mit identischer Messtechnik wie nun auf Kapidag sind bereits für die Nordküste des Marmara­meeres vorgesehen und in der Umsetzung.

GFZ / JOL

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