Falten in Graphen
Feine Wolframspitze erzeugt gezielt Versetzungen auf atomarer Ebene.
Metalle lassen sich leicht verformen ohne gleich zu zerbrechen, obwohl sie eine kristalline Struktur besitzen wie sehr spröde Stoffe wie Salz oder Kandiszucker. Erst in den 1940er Jahren haben Wissenschaftler die Ursache für diese Plastizität gefunden: Verantwortlich sind feine Kristallbaufehler auf atomarer Ebene, die Versetzungen. Diese kann man sich wie winzige Teppichfalten vorstellen, die sich auch wie echte Teppichfalten verschieben lassen. Wenn ein Metall verformt wird, wandern Millionen und Abermillionen solcher winzigen Falten durch den Werkstoff. Versetzungen machen also im Grunde viele technische Prozesse wie Walzen oder Schmieden erst möglich, sie spielen aber auch im Alltag eine wichtige Rolle: So wandeln Versetzungen in der Knautschzone von Autos Bewegungsenergie um, indem sie das Metall verformen.
Abb.: In Graphen lassen sich winzige Versetzungen mit Hilfe einer feinen Spitze, einem Elektronenmikroskop und hochsensitiven Roboterarmen gezielt erzeugen. (Bild: P. Schweizer, FAU)
Wissenschaftler an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg haben nun am Beispiel von Graphen eine Möglichkeit gefunden, einzelne solcher Versetzungen direkt anzufassen und zu bewegen. Das Team um Erdmann Spiecker vom Lehrstuhl für Mikro- und Nanostrukturforschung ebnet damit den Weg für neuartige Entwicklungen in diesem Bereich mit noch ungeahnten Möglichkeiten, Einfluss auf die Eigenschaften des Materials zu nehmen. Schon vor fünf Jahren hatte eine interdisziplinäre Gruppe der Universität die Versetzungen in Bilagen-Graphen gefunden. „Als wir die Versetzungen in Graphen entdeckten, wussten wir schon, dass wir ein ideales Modellsystem für die Erforschung von Plastizität gefunden hatten“, erklärt Spiecker. Dem Team war klar, dass es dafür nicht mehr ausreicht, die winzigen Versetzungen nur sichtbar zu machen. Vielmehr musste ein Weg gefunden werden, direkt mit ihnen zu interagieren.
Um Versetzungen abbilden zu können, steht den Forschern ein vielseitiges Mikroskop zur Verfügung, dass die Experten im Bereich der Elektronenmikroskopie ständig weiterentwickeln. „Während der letzten drei Jahre haben wir unser Mikroskop mit immer neuen Möglichkeiten ausgestattet und sozusagen zu einer Werkbank auf der Nanoskala aufgerüstet“, sagt Doktorand Peter Schweizer, der die mikroskopischen Analysen zusammen mit seinem Kollegen Christian Dolle durchgeführt hat. „Dadurch können wir Nanostrukturen nicht nur sehen, sondern mit ihnen gleichzeitig direkt interagieren. Zum Beispiel haben wir die Möglichkeit, sie mechanisch zu verschieben, definiert zu erwärmen oder ein elektrisches Potenzial anzulegen“. Herzstück des Geräts sind kleine Roboterarme, die mit der Genauigkeit eines Millionstel Millimeters positioniert werden können. Bestückt man diese Arme mit feinen Nadeln, können diese auf die Probenoberfläche abgesenkt werden.
Für die Kontrolle der Roboterarme verwendeten die Wissenschaftler Gamepads, wie sie auch zur Steuerung von Computerspielen eingesetzt werden. „So einen kleinen Roboterarm kann man nicht einfach mit der Tastatur steuern, da braucht man etwas, das intuitiver ist“, erklärt Dolle. „Es dauert eine Weile bis man es wirklich beherrscht, aber dann ist tatsächlich das Manipulieren von einzelnen Versetzungen möglich.“
Anfänglich waren die Forscher überrascht, wie resistent Graphen gegenüber mechanischer Belastung ist. „Wenn man darüber nachdenkt, sind es ja nur zwei Lagen von Kohlenstoffatomen, auf die wir da eine scharfe Spitze drücken“, sagt Peter Schweizer. Die meisten Materialien würden das nicht aushalten, aber Graphen ist Weltrekordhalter in mechanischer Beständigkeit. Das ermöglichte es den Forschern, die Oberfläche des Materials mit einer feinen Wolframspitze zu berühren und Versetzungen hin- und herzuschieben. Nur mithilfe dieser Technik konnten die Wissenschaftler grundlegende Theorien von Versetzungen bestätigen, aber auch ganz neue Erkenntnisse darüber gewinnen, wie sich Versetzungen gegenseitig beeinflussen und miteinander reagieren.
FAU / JOL