Gespannt auf das Zerreißen
Neue Theorie erlaubt besseren Vergleich experimenteller und theoretischer Daten bei der Kraftspektroskopie.
So vielfältig wie die Funktionen, die Proteine im Körper übernehmen, sind auch die Krankheitsbilder, die Fehler im molekularen Bauplan nach sich ziehen können, darunter etwa Alzheimer oder die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit. Der Bauplan der Proteine bestimmt sich maßgeblich aus mikroskopischen Bindungsenergien, die konventionellen biochemischen Techniken schwer zugänglich sind, sich jedoch aus dem Reißverhalten der Moleküle unter externer Kraft ableiten lassen. Auf dieser Idee basiert die sogenannte dynamische Kraftspektroskopie: eine Kombination experimenteller und theoretischer Methoden mit dem gemeinsamen Ziel, einzelne Moleküle kontrolliert zu zerreißen. Ähnlich wie in makroskopischen Bruch- und Crashtests lassen sich dann aus den dazu benötigten Kräften mittels Modellrechnungen Rückschlüsse auf die energetischen Eigenschaften und die Stabilität der Moleküle ziehen.
Abb.: Die Illustration zeigt schematisch eine Proteinstruktur und Verteilungen der Bruchkräfte einer ihrer Bindungen unter Belastung für zwei verschiedene Belastungsraten. (Bild: U. Leipzig)
Die dazu verwendeten experimentellen Werkzeuge, wie etwa Laserfallen oder Rasterkraftmikroskope, erlauben traditionell nur Kraftprotokolle, in denen die Kraft zeitlich vergleichsweise langsam erhöht wird, was auch die mathematische Beschreibung des Reißvorgangs in konventionellen Theorien der Kraftspektroskopie erheblich vereinfacht. Atomistische Computersimulationen dagegen operieren im entgegengesetzten Grenzfall sehr rasanter Kraftsteigerungen, um die erforderliche Rechenzeit in Rahmen des Machbaren zu halten. Dabei werden aber physikalische Effekte relevant, die sich in den zur Datenanalyse bislang verwendeten mathematischen Theorien nicht ausreichend berücksichtigen lassen.
Forscher des Instituts für Theoretische Physik der Universität Leipzig haben nun eine neue Theorie der dynamischen Kraftspektroskopie vorgestellt, die es erstmals erlaubt, langsames und schnelles Aufreißen von Molekülbindungen mit einer einheitlichen analytischen Theorie zu beschreiben. „Damit wird endlich ein direkter Vergleich zwischen Experiment und Computersimulation möglich“, sagt Klaus Kroy. „Auch für zukünftige Messungen, die mit innovativen experimentellen Techniken zu immer höheren Kraftraten vordringen, wird damit nun eine präzise mathematische Auswertung möglich. Davon darf man sich neue Einblicke in die Funktionsweise von Proteinen, Biopolymeren und anderen Bausteinen des Lebens erhoffen, und damit am Ende auch ein besseres Verständnis der molekularen Ursachen vieler Krankheiten.“
U. Leipzig / DE