Hochleistungskeramik: Endstation Chaos
Hochentropie-Materialien sind bei extrem hohen Temperaturen besonders stabil und lassen sich für Energiespeicher einsetzen.
Kristalle gelten als das Gegenteil von Unordnung: In einer Kristallstruktur sind alle Gitterbausteine sauber und auf kleinstmöglichem Volumen nebeneinander sortiert. Umso bizarrer wirkt die Idee, man könne Kristalle durch die Kraft der Entropie stabilisieren und so eine neue Materialklasse erschaffen. Doch genau das versuchen Forscher an der Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt Empa.
Entropiestabilisierte Materialien sind ein noch junges Forschungsgebiet. Den Anfang machten 2004 Hochentropie-Legierungen, Gemische von fünf oder mehr Elementen, die sich untereinander vermengen lassen. Wenn die Mischung gelingt und alle Elemente homogen in der Legierung verteilt sind, zeigen sich bisweilen besondere Eigenschaften, die nicht von den einzelnen Zutaten herrühren, sondern von deren Mixtur. Die Wissenschaftler nennen das den „Cocktail-Effekte“.
Seit 2015 ist bekannt, dass sich auch keramische Kristalle durch die Entropie stabilisieren lassen. Die Auswahl der Kristallbausteine nimmt dadurch noch zu: Es passen auch zu große und zu kleine Bausteine in den Kristall, die ihn im Normalfall zerstören würden. Auf diese Weise gelang es dem Empa-Team bereits, neun verschiedene Atome in einen Kristall einsetzen. Der Vorteil: Selbst, wenn solche Kristalle hohen Temperaturen ausgesetzt sind, bleiben sie stabil – denn eine Umsortierung würde zu größerer Ordnung führen. Das natürliche Streben nach maximaler Unordnung stabilisiert also die ungewöhnliche Kristallstruktur – und damit das gesamte Material – auch unter Extrembedingungen.
„Bei bis zu vier Komponenten im Kristall ist alles noch normal, ab fünf Komponenten ändert sich die Welt“, erläutert Empa-Forscher Michael Stuer. „Diese Materialklasse eröffnet uns eine Vielzahl neuer Chancen. Wir können mit Hilfe der Entropie zum Beispiel Kristalle stabilisieren, die sonst aufgrund innerer Spannungen zerfallen würden. Und wir können hochaktive Kristalloberflächen schaffen, die es vorher noch nie gab, und nach interessanten Cocktail-Effekten suchen.“
Gemeinsam mit seiner Kollegin Amy Knorpp macht sich Stuer nun auf den Weg ins Unbekannte. Die beiden sind Spezialisten für die Herstellung von feinem Kristallpulver, und sie haben an der Empa Experten für Röntgen- und Oberflächenanalytik, um die hergestellten Proben genauestens zu charakterisieren. Stuer und Knorpp konzentrieren sich auf katalytisch aktive Materialien. Bei der chemischen Reaktion, für die sie sich interessieren, geht es um die Verbindung von CO2 und Wasserstoff zu Methan. Aus einem Treibhausgas soll also ein nachhaltiger, speicherbarer Brennstoff werden. „Wir wissen, dass CO2-Moleküle auf bestimmten Oberflächen besonders gut adsorbiert werden und die gewünschte Reaktion dann leichter und schneller abläuft“, sagt Knorpp. „Nun versuchen wir entropische Kristalle herzustellen, an deren Oberflächen solche hochaktiven Bereiche existieren.“
Um rascher voranzukommen haben die Forscher mit Hilfe der Empa-Werkstatt ein spezielles Synthesegerät gebaut, in dem vielerlei chemische Mixturen wie am Fließband nacheinander getestet werden können. Im „Tubular Flow Reactor“ laufen kleine Bläschen durch einen Schlauch, in denen die jeweilige Reaktion abläuft. Am Ende werden die Bläschen entleert, und das darin enthaltene Pulver kann weiterverarbeitet werden.
„Der Tubular Flow Reactor hat einen riesigen Vorteil für uns: Alle Bläschen sind gleich groß, darum haben wir für unsere Synthesen immer ideale und gleichbleibende Randbedingungen“, erläutert Stuer. „Falls wir von einer besonders vielversprechenden Mischung größere Mengen brauchen, produzieren wir einfach mehrere Bläschen mit der gleichen Mixtur nacheinander.“
Für ihr erstes großes Projekt haben sich die Empa-Forscher mit Kollegen vom Paul-Scherrer-Institut zusammengetan. Diese untersuchen in einem Versuchsreaktor die mögliche Methanisierung von CO2. Die PSI-Forscher haben bereits Erfahrungen mit verschiedenen Katalysatoren gesammelt und stoßen immer wieder auf ein Problem: Der Katalysator, an dessen Oberfläche die chemische Reaktion stattfindet, wird mit der Zeit schwächer. Das liegt daran, dass Schwefel-Anteile im Biogas die Oberfläche verschmutzen oder dass sich bei hohen Temperaturen die Katalysator-Oberflächen chemisch umwandeln.
Hier suchen die Forscher nach einem Durchbruch mit Hilfe von entropischen Kristallen. Denn diese sortieren sich auch bei hohen Temperaturen nicht um – sie werden ja durch Chaos stabilisiert. „Wir hegen die Hoffnung, dass unsere neuartigen, entropischen Kristalle bei dem Prozess länger durchhalten und möglicherweise gegen Schwefel-Verschmutzungen unempfindlicher sind“, sagt Stuer.
Ist gemeinsam mit den PSI-Forschern erst einmal ein Weg gefunden, um diese Probleme zu lösen, dann sind die Empa-Kristallspezialisten parat für weitere Herausforderungen: etwa Hochleistungsbatterien, supraleitende Keramik oder Katalysatoren für Auto-Abgase und andere chemische Produktionsprozesse. „Es ist ein dunkler Wald, in den wir da hineinlaufen“, sagt Knorpp. „Aber wir haben eine Vermutung, in welcher Richtung etwas zu finden ist. Nun zeichnen wir eine Landkarte dieser Systeme. Irgendwo da draußen, so denken wir, ist eine Schatztruhe voller Erkenntnisse verborgen.“
Empa / RK
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
A. J. Knorpp et al.: From Synthesis to Microstructure: Engineering the High-entropy Ceramic Materials of the Future, Chimia 2022, 76 (2022); DOI: 10.2533/chimia.2022.212 - Nanopowders and ceramics (M. Stuer), Functional Materials, Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt, Dübendorf, Schweiz