Igor Tamm: Freiheitsliebender Theoretiker
Vor 50 Jahren starb der russische Physik-Nobelpreisträger und Mitentdecker des Cherenkov-Effekts.
Igor Tamm hat mehr als einen Beitrag zur modernen Physik geleistet, für den er in Erinnerung bleiben sollte: 1930 führte er die Phononen als Quasiteilchen in die Festkörperphysik ein, 1932 publizierte er das Konzept des Metall-Oxid-Halbleiter-Feldeffekttransistors (MOSFET), 1934 postulierte er ein magnetisches Moment für Neutronen und legte mit seiner Theorie über die Kernkräfte den Grundstein für Hideki Yukawas Vorhersage der Mesonen. 1937 erklärte er mit I. M. Frank zusammen den Cherenkov-Effekt, wofür er mit ihm und Cherenkov zusammen 1958 den Nobelpreis erhielt.
Geboren am 3. Juli 1895 in Wladiwostok als Sohn eines deutschstämmigen Ingenieurs der Transsibirischen Eisenbahn, wuchs Igor Tamm in der Ukraine auf. Seine Eltern, besorgt über seine im Russischen Kaiserreich revolutionären Sympathien mit dem Marxismus, schickten ihn zum Studium der Mathematik nach Edinburgh. Nach dem ersten Studienjahr zwang der Ausbruch des Ersten Weltkriegs ihn zur Rückkehr. Er setzte sein Studium in Moskau fort und wechselte zur Physik.
Der willensstarke 24-Jährige handelte sich aufgrund seiner politischen Überzeugungen in den folgenden Jahren mehrfach Gefängnisstrafen ein und hatte – laut seinen Biographen – Glück, dass er die Wirren des Krieges und der Revolutionszeit unbeschadet überlebte. Als erklärter Gegner des Eintritts Russlands in den Ersten Weltkrieg meldete er sich freiwillig für den Sanitätsdienst. In der Revolutionszeit war er Deputierter einer Sozialdemokratischen Partei in St. Petersburg (Gegner der Bolschewiken), arbeitete zeitweise in einer Volksbildungsabteilung in seiner Heimatstadt und als Physiker der Taurischen Universität auf der Krim. Sein Nomadenleben endete 1920 in Odessa, als er heiratete. Dort traf er auch seinen wichtigsten Lehrer, Leonid Mandelstam, der ihn mit der modernen Quantenphysik bekannt machte.
1922 wechselte Mandelstam mit seiner Gruppe nach Moskau, wo Tamm ab 1924 eine Stelle als Privatdozent an der Staatsuniversität erhielt. In diesem Jahr hielt der 29-Jährige einen Vortrag über Quantenstatistik beim 4. Kongress der russischen Physiker und weckte damit das Interesse des deutschstämmigen Theoretikers Paul Ehrenfest. Dieser war mit einer russischen Mathematikerin verheiratet und hatte selbst von 1907 bis 1912 in Russland gelebt, bis er eine Professur an der Universität Leiden erhalten hatte. Ehrenfest bemühte sich, den Austausch mit russischen Physikern zu pflegen. Indem er ihnen Stipendien für europäische Universitäten verschaffte, leistete er einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der modernen Quantenphysik in der Sowjetunion.
Auch für Igor Tamm war der fünfmonatige Aufenthalt in Leiden, gefolgt von einem zweimonatigen Besuch an der Universität Leipzig bei Peter Debye und Werner Heisenberg ein entscheidender Schritt für seine weitere wissenschaftliche Entwicklung, denn in Leiden lernte er Paul Dirac kennen. Der um sieben Jahre jüngere Physiker galt als Genie, war aber überaus schweigsam. Mit Tamm verband ihn bald eine enge Freundschaft, die sich auch über die gemeinsame Zeit in Leiden und Leipzig in einer bemerkenswerten Korrespondenz fortsetzte. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs besuchte Dirac seinen Freund regelmäßig in der Sowjetunion.
Igor Tamm wurde mit einem anderen Freund, Jakob Frenkel, und dem jüngeren Lew Landau in den 1930er-Jahren zum Pionier der russischen Kern- und Elementarteilchenphysik. Ab 1934 leitete er die Theorieabteilung des Lebedew-Physikalischen Instituts (FIAN) der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Als er sich zehn Jahre später auf den Lehrstuhl für theoretische Physik an der Lomonossow-Universität bewarb, wurde er jedoch abgelehnt. Ursache war eine Kampagne der Universitätsphysiker gegen die „moderne Physik“. In der Folge durften Tamm und sein früherer Lehrer Mandelstam Ende der 1940er-Jahre zeitweise nicht lehren. Das Blatt wendete sich erst nach Stalins Tod 1953 zugunsten der Akademiephysiker, zu denen auch Tamm gehörte. Viele hatten sich durch ihre Arbeit am russischen Atombombenprojekt ausgezeichnet. Tamm war, vermutlich aufgrund seiner früheren politischen Überzeugungen, nicht hinzugezogen worden.
1948 gab es noch einmal eine entscheidende Wende in Tamms Laufbahn, als er den streng vertraulichen Auftrag erhielt, sich an der Entwicklung der sowjetischen Wasserstoffbombe zu beteiligen. Zu der kleinen Gruppe, die in das geheime Kernwaffenlabor „Arzamas-16“ bei Gorkij (Zentralrussland) aufbrach, gehörte auch der frisch promovierte Sacharow. Tamm ging nach dem erfolgreichen Test der Wasserstoffbombe 1953 zurück ans FIAN in Moskau. Gemeinsam mit Sacharow entwickelte Tamm in diesen Jahren auch das Prinzip des Tokamak-Fusionsreaktors.
In den 1960er-Jahren setzte sich Tamm auf den Pugwash-Konferenzen gemeinsam mit anderen Physikern aus aller Welt dafür ein, das atomare Wettrüsten zu begrenzen. Sein Status als Nobelpreisträger, „Held der sozialistischen Arbeit“ und Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Akademien mag ihm gewisse politische Freiheiten gewährt haben. Sacharow, der bereits ab 1955 begonnen hatte, sich gegen weitere Atombombentests einzusetzen, wurde in späteren Jahren als Dissident eingestuft. Nachdem er 1968 während des Prager Frühlings sein Essay „Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit“ in ausländischen Zeitungen veröffentlicht hatte, wurde er aus dem Atombombenprogramm entlassen.
Gemeinsam beteiligten sich Tamm und Sacharow 1962 an der Wissenschaftsopposition gegen den stalinistischen Chefbiologen Trofim Lyssenko, der die neuen Erkenntnisse der modernen Genetik bekämpfte.
Privat war Tamm ein begeisterter Bergsteiger, Wanderer und Skifahrer. Für seine Hobbies begeisterte er nicht nur Dirac, sondern auch seinen Sohn Jewgeni, der ebenfalls Physiker und ein bekannter Bergsteiger wurde. Igor Tamm starb am April 1971 in Moskau im Alter von 75 Jahren.
Anne Hardy
Weitere Infos
- Igor Y. Tamm – Nobelpreis für Physik 1958
- Alexei B. Kojevnikov (Hrsg), Korrespondenz Paul Dirac – Igor Tamm 1928–1933 PDF
- B. M. Bolotowskij und V. J. Frenkel (Hrsg.): Igor E Tamm: Selected Papers, Springer, Heidelberg (1991)
Weitere Beiträge
- M. Schaaf, Rezension von: G. Gorelik, Andrej Sacharow, Birkhäuser, Basel (2013)
- P. Felgengauer und H. Rotter, Die geheimen Nuklearstädte Rußlands, Physikalische Blätter 48, 932 (1992) PDF
- Nobelpreis fur Physik 1958 an Tscherenkow, Tamm und Frank, Physikalische Blätter 15, 35 (1959) PDF
AP