Künstlichen Flimmerhärchen pumpen Flüssigkeiten
Auf der Suche nach dem optimalen Bewegungsmuster für einen maximalen Flüssigkeitsstrom.
Wissenschaftler des MPI für intelligente Systeme entwickeln künstliche Flimmerhärchen, die so programmiert werden können, dass sie sich in Wellen bewegen. In Experimenten zeigen sie, wie die millimeterkleinen Zilien viskose Flüssigkeiten genauso effektiv pumpen können wie ihr natürliches Vorbild. Die Forschen wollen die Frage beantworten, welches Bewegungsmuster einen maximalen Flüssigkeitsstrom erzeugt.
Zilien sind haarähnliche Strukturen, die zum Beispiel in den Atemwegen vorkommen. Dort liegen sie wie ein Teppich auf der Schleimhaut. Durch die Zilienbewegung wird Schleim und an ihm haftende, unerwünschte Substanzen aus den Atemwegen befördert. Ähnliche Flimmerhärchen kommen auch in den Eileitern vor, die Eizellen in Richtung der Gebärmutter transportieren. Auch Korallen haben Zilien – dünne gemeinschaftlich schlagende Geißelhaare, die Wasser aufwirbeln und so Nährstoffe und Sauerstoff anschwemmen.
Der von den Wissenschaftlern jetzt entwickelte Roboter ähnelt echten Flimmerhärchen, ist jedoch größer: Jedes Replikat einer Zilie ist knapp einen Millimeter lang. Das ist hundertmal grösser als ein natürliches Flimmerhärchen, wie es zum Beispiel in einer Lunge vorkommt. Die Wissenschaftler bauten die künstlichen Flimmerhärchen aus einem Elastomer, einem gummiähnlichen Kunststoff, in den sie magnetisch geladene Partikel in einem ganz bestimmten Muster einbetteten. So wird jedes Härchen programmierbar: Die Forscher können nicht nur die Bewegung jedes einzelnen Flimmerhärchens fernsteuern, sondern auch die koordinierte Bewegung aller Flimmerhärchen im Zusammenspiel mit ihren Nachbarn.
Die Forscher schalteten ein rotierendes externes Magnetfeld an und zeigten, dass ihre künstlichen Flimmerhärchen eine wellenförmige Bewegung ausführten, die der Bewegung echter Flimmerhärchen ähnelt. Sie verwendeten einen roten Farbstoff und zeigten mit Hilfe eines bildgebenden Verfahrens, wie die Härchen eine viskose Flüssigkeit pumpen und Partikel dank der optimal koordinierten Bewegung der Härchen effizient transportieren.
Die Forscher zeichneten die peitschenartig schlagende Bewegung der künstlichen Geißelhaare mit einer Hochgeschwindigkeitskamera auf. Die schlanken Strukturen bewegen sich ähnlich wie echte Flimmerhärchen: weder synchron noch zufällig, sondern koordiniert wellenartig. Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass eine solche metachronale Welle im Laufe der Evolution perfektioniert wurde und einen optimalen Flüssigkeitsstrom erzeugt.
Die Erforschung natürlicher Flimmerhärchen und ihres kollektiven Verhaltens ist eine herausfordernde Aufgabe, da echte Zilien oft nur wenige Mikrometer klein sind. Selbst mit einem Mikroskop sind Flimmerhärchen nur sehr schwer zu sehen. Zudem ist es unmöglich, ihre Bewegung zu kontrollieren. Indem sie Zilien künstlich nachbildeten, gelang es den Wissenschaftlern, den grundlegenden quantitativen Zusammenhang zwischen der metachronalen Koordination und dem damit ausgelösten Flüssigkeitsstrom experimentell aufzuzeigen.
„Mit unserem künstlichen System können wir die Flimmerhärchen-Bewegung ähnlich wie echte Flimmerhärchen in einem größeren Maßstab nachahmen, wobei immer die gleichen physikalischen Gesetze gelten. Auf diese Weise können wir viele verwertbare Daten erzeugen. Wir können quantifizieren, welche Bewegungsmuster einen maximalen Flüssigkeitsstrom erzeugen“, sagt Team-Mitglied Xiaoguang Dong.
In mehreren Experimenten zeigte das Team, dass nur antiplektische metachronale Wellen den Flüssigkeitsstrom verbessern können. Antiplektisch bedeutet, dass die Wellenausbreitungsrichtung entgegengesetzt zu der des Flüssigkeitsstroms ist. Die Beobachtungen der Forscher beweisen die kritische Funktion der antiplektischen metachronalen Wellen und enthüllen die grundlegende quantitative Beziehung zwischen der metachronalen Koordination und dem induzierten Flüssigkeitsstrom sowohl in künstlichen als auch in natürlichen Flimmerhärchen.
Die künstlichen Flimmerhärchen könnten nach Ansicht der Wissenschaftler für die weitere Untersuchung vieler interessanter Fragen genutzt werden, etwa wie sich die Strömungsmuster der Flüssigkeit ändern, wenn die Dynamik der Flimmerhärchen, die Geometrie der Ränder oder die Art der umgebenden Flüssigkeit variiert wird.
MPI-IS
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
X. Dong et al.: Bioinspired cilia arrays with programmable nonreciprocal motion and metachronal coordination, Sci. Adv. 6, eabc9323 (2020); DOI: 10.1126/sciadv.abc9323 - Abt. Physische Intelligenz, Max-Planck-Institut für intelligente Systeme, Stuttgart