Materie im Trainingslager
Stand der Anwendung des Maschinenlernens bei Forschung an aktiven Materialien.
Verfahren des Maschinenlernens haben durch die Verfügbarkeit von enormen Datenmengen in den vergangenen Jahren einen großen Zuwachs an Anwendungen in vielen Gebieten erfahren: vom Klassifizieren von Objekten über die Analyse von Zeitreihen bis hin zur Kontrolle von Computerspielen und Fahrzeugen. Forscher der Universitäten Leipzig und Göteborg haben jetzt den aktuellen Stand der Anwendung und Anwendungsmöglichkeiten des Maschinenlernens im Bereich der Forschung an aktiven Materialien beleuchtet.
Als aktive Materialien bezeichnet man Systeme, die durch die Umwandlung von Energie angetrieben werden. Bestes Beispiel für aktive Materialien sind biologische Systeme vom einzelnen molekularen Motor über Bakterien und Zellen bis hin zu ganzen Organismen, und Schwärmen von Tieren. Aktive Materialien umfassen aber auch künstliche Systeme aus Nano- und Mikropartikeln, die die Funktion von biologischen Systemen imitieren.
Gerade um künstliche intelligente Systeme für künftige Technologien zu bauen, muss man natürliche intelligente Systeme, die teils Millionen Jahre der Evolution durchlaufen haben, erst einmal verstehen. „In der Natur gibt es erstaunliche Beispiele“, sagt Frank Cichos von der Uni Leipzig. Vögel wie der Albatros haben gelernt, atmosphärische Strömungen zum Gleiten zu nutzen. Plankton navigiert in turbulenten Meeresströmen und Spermien steuern ihre Bewegung aufgrund verrauschter chemischer Signale, die die mikroskopische Welt aktiver Materie bestimmen. Vielfach zeigen Tiere ein kollektives Verhalten, sie bilden Schwärme und nutzen Kommunikationswege, die ihnen blitzschnelle Richtungswechsel erlauben.
Um solche komplexen Abläufe zu erkennen und zu verstehen, nutzen Wissenschaftler weltweit zunehmend Methoden des maschinellen Lernens, die zu den Werkzeugen im Feld der künstlichen Intelligenz gehören. Welche verschiedenen Ansätze es hier derzeit gibt und für welche Anwendungsfelder sie sich eignen, hat Cichos mit Kollegen der Uni Göteborg in Schweden zusammengestellt. Die Wissenschaftler zeigen auch, welche Fallstricke zu beachten sind.
Naheliegende Anwendungsmöglichkeiten des Maschinenlernens findet man in der Bildanalyse, also in der Erkennung von Objekten zum Beispiel in Mikroskopieaufnahmen, ihrer Verfolgung über die Zeit und der Charakterisierung ihrer Bewegungen. Oft werden dazu neuronale Netze mit Trainingsdaten angelernt, die auch künstlich erzeugt werden oder aus zahlreichen Experimenten gewonnen werden können. „Die Vielfalt der verschiedenen Verfahren, die bereits jetzt in der Forschung an aktiven Materialien eingesetzt werden, ist jedoch viel größer“, so Cichos.
Reinforcement Learning – ein Lernen durch Belohnungen – wird zur Erforschung von Navigationsstrategien in komplizierten Strömungen eingesetzt und Methoden des Deep Learnings helfen bei der Suche nach einfacheren physikalischen Modellen für die Musterbildung in komplexen Strömungen. Während diese Anwendungen alle auf Computern realisiert werden, gibt es aber auch Ansätze künstliche aktive Materie als neuronale Netze einzusetzen.
Neben den grundlegenden Erkenntnissen, die über aktive Materie mit Hilfe des Maschinenlernens gewonnen werden können, eröffnen sich auch technologische Anwendungen. Das effiziente Gleiten in Luftströmungen mittels sensorischer Informationen, wie für Vögel untersucht, kann zur Optimierung von Flugzeugen dienen. Das Verständnis kollektiven Verhaltens in Schwärmen könnte für das autonome Fahren von Interesse sein und Navigationsstrategien beim aktiven Transport von Medikamenten im menschlichen Körper helfen.
Cichos und seine Arbeitsgruppe beschäftigen sich selbst mit künstlicher aktiver Materie im Mikro- und Nanobereich. Sie stellen künstliche Partikel her, die durch Licht angetrieben werden und untersuchen ihr Verhalten. „Wir wollen unter anderem mikroskopische Partikel erforschen, die ein adaptives kollektives Verhalten zeigen und auf kleinsten Längenskalen lernen,“ so der Forscher. Dazu setzt die Arbeitsgruppe Verfahren des Reinforcement Learning ein, damit aktive Mikropartikel ihre Umgebung erforschen lernen. Dabei helfen ihnen auch neuronale Netze für die Erkennung ihrer aktiven Partikel in der optischen Mikroskopie, die vor allem bei vielen unterschiedlichen Partikeln algorithmischen Verfahren überlegen ist.
Aus Sicht der Wissenschaftler kann die Erforschung aktiver Materie auch zur Verbesserung der Methodik des maschinellen Lernens beitragen. „Die Forschung an aktiver Materie kann leicht große, qualitativ hochwertige Datensätze über viele Längen- und Zeitskalen durch Experimente und physikalische Modelle generieren. Auf der Basis dieser Daten können neue Modelle für das Maschinenlernen entwickelt werden“, betont Cichos.
Doch nicht alle Fragen der aktiven Materie müssen mit maschinellem Lernen gelöst werden, gibt Cichos zu bedenken: „Bei allem Hype, den es um maschinelles Lernen gibt, muss man auch realistisch einschätzen, ob man ein solches Verfahren wirklich braucht, wenn man das Problem auch mit klassischen Methoden angehen kann.“
AML / RK
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
F. Cichos et al.: Machine learning for active matter, Nat. Mach. Intell. 2, 94 /2020); DOI: 10.1038/s42256-020-0146-9 - Molekulare Nanophotonik (F. Cichos), Peter-Debye-Institut für Physik der weichen Materie, Fklt. Für Physik und Geowissenschaften, Universität Leipzig – Alma Mater Lipsiensis