17.06.2020

Mit Schutzmaßnahmen in der Schwerelosigkeit

Minutiös geplanter Parabelflug dank Einhaltung aller Pandemievorschriften möglich.

Zum vierten Mal hat ein Airbus 310 ZERO-G unter der Leitung des UZH Space Hub von Dübendorf abgehoben. Auf dem Programm standen 16 Parabel­manöver, wiederholte extreme Steig- und Sturzflüge, mit denen für jeweils 22 Sekunden die Erdanziehungs­kraft überwunden wird. Während dieser Zeit­spannen ließ sich experimentell untersuchen, wie sich die Schwerelosigkeit auf biologische, chemische oder physikalische Vorgänge auswirkt – und dies, ohne dass dafür die Erdatmosphäre verlassen werden muss. Denn im Weltall zu forschen, ist enorm teuer und aufwändig.
 

Abb.: Oliver Ullrich (l.) leitet die Forschungs­flüge des UZH Space Hubs....
Abb.: Oliver Ullrich (l.) leitet die Forschungs­flüge des UZH Space Hubs. (Bild: R. Sablotny)

Dass eine Flugmission wie die aktuelle von Schweizer Boden aus starten kann, ist laut UZH-Anatomie­professor und Space-Hub-Direktor Oliver Ullrich der einzigartigen Konstellation am Standort Dübendorf zu verdanken: „Die Verbindung von Forschung, Industrie und Flughafen­infrastruktur innerhalb eines Innovations­parks ist ideal für solche komplexen Forschungs­flüge.“

Mit an Bord waren 35 Wissenschaftler der Universitäten Zürich, Basel und Bern, der ETH sowie weiterer Forschungs­institutionen in Deutschland, Italien und den USA. Im Gepäck: Acht Experimente aus (Bio-)Medizin, Geologie und Astrophysik mit Innovations­potenzial. Sie reichen von möglichen Therapie­ansätzen bei Immun­erkrankungen oder Muskel­abbau über verbesserte Computer­modelle der Mars-Geologie bis hin zur Erprobung neuer Technologien für die Raumfahrt.

UZH-Forscherin Cora Thiel etwa untersucht zusammen mit Wissenschaftlerinnen der NASA und der University of Wisconsin, wie sich menschliche Zellen an die Schwerelosigkeit anpassen, genauer: Wie die Wirkung der Schwerelosigkeit in den Zellkern gelangt und welche Gene dort reguliert werden. Die Experimente dazu werden im Rahmen des Space Act Agreements zwischen NASA und UZH durchgeführt. Sie helfen zu verstehen, wie mechanische Kräfte grundsätzlich auf unsere Gene wirken und wie Störungen des Immun- und Muskel­systems bei längeren Aufenthalten im Weltraum künftig vermieden werden könnten.

Ein anderes Experiment, das Thiel zusammen mit Oliver Ullrich unter Hochdruck aufgegleist hat, fokussiert auf Über­reaktionen des Immun­systems bei schweren Covid-19-Verläufen. Aus der Raumfahrt­medizin ist bekannt, dass Immun­reaktionen in der Schwerelosigkeit gedämpft ausfallen. Mithilfe zugelassener Medikamente versuchen die Forscher nun einen identischen Effekt in menschlichen Zell­kulturen herbeizuführen und damit eine mögliche Grundlage für neue Therapie­ansätze zu schaffen. Italienische Notfall­mediziner an Bord testen derweil Instrumente für die kardio­pulmonale Reanimation in Schwerelosigkeit respektive unter Schwerkraft­bedingungen, wie sie auf dem Mond und Mars herrschen – ein Thema, das für die Raumfahrt­medizin von großer Bedeutung ist.

Dass die Experimente zum aktuellen Zeitpunkt durchgeführt werden können, ist alles andere als selbst­verständlich. Schutz­bestimmungen und Reise­beschränkungen im Zusammenhang mit Covid-19 sind nicht nur für die Wirtschaft eine große Herausforderung, sondern auch für Forschung und Mobilität. Die großen Parabelflugkampagnen der französischen, deutschen und europäischen Raumfahrt­agentur sind derzeit alle ausgesetzt, ebenso jene in den USA. Auch der Forschungsflug des UZH Space Hub hätte abgesagt werden sollen. Doch Initiator Oliver Ullrich setzte alles daran, dies zu verhindern, denn bei einer Verschiebung hätte ein neuer Flug frühestens im Herbst 2021 durchgeführt werden können. „Eine derart lange Verzögerung würde die Forschungs­vorhaben der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler enorm beeinträchtigen“, so Ullrich. „Zudem lassen sich gewisse Forschungs­förderungen nicht einfach um ein Jahr verlängern.“ So leisteten er und das Projektteam in den letzten Monaten einen enormen Zusatzeffort, um das lang geplante Projekt dennoch zu realisieren.

Die größte Schwierigkeit lag dabei, laut Ullrich, in der Unvorherseh­barkeit der Situation und in den uneinheitlichen staatlichen Maßnahmen gegen die Pandemie. Der Parabelflug selbst findet zwar in der Schweiz statt, das Team rundum ist aber international: Flugzeug und Crew sind aus Frankreich, Teile der Forschungs­hardware stammen aus Deutschland und Italien, weitere Kooperations­partner kommen aus den USA. Jedes dieser Länder hatte eigene Einreise­beschränkungen, gleich­zeitig war der Warenverkehr verlangsamt, Zulieferer­ketten brachen zusammen und administrativ lief nichts mehr ohne Sonderbewilligungen. Dazu Ullrich: „Eine Forschungs­flugkampagne gleicht im Normalfall einem hochpräzisen Uhrwerk. Unter den aktuellen Bedingungen liefen jedoch diverse Zahnrädchen nicht mehr verlässlich oder brachen ganz weg.“ Die Organisatoren der Flug­kampagne waren an allen Fronten gleichzeitig gefordert. Sie erhielten aber auch Unterstützung, insbesondere von den öffentlichen Einrichtungen in der Schweiz.

Für die konkrete Durchführung der Flugmission bedeutet die aktuelle Ausnahme­situation vor allem auch rigorose Schutz­maßnahmen, die nebst den Schweizer Richtlinien auch jenen von Frankreich entsprechen. Dazu gehören Abstands­regeln ebenso wie ein strenges Desinfektions­regime, Schutzmasken, Handschuhe, abgepackte Lebensmittel und spezielle Sicherheits­beauftrage. Im Air Force Center auf dem Flugplatz Dübendorf arbeiten nur wenige Personen in einem großen Hangar, an Bord selbst gilt für die 35 Forscher und die Crew Masken­pflicht. Um unkontrollierte Kollisionen in Schwerelosigkeit zu vermeiden, ist diesmal auch das freie Schweben während des Flugs verboten.

U. Zürich / DE
 

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