12.11.2021

Neutronen mit oszillierender Form

Formfaktoren des Neutrons in bislang schwer zugänglichem Energiebereich präzise bestimmt.

Sämtliche bekannte Atomkerne und damit fast die gesamte sichtbare Materie bestehen aus Protonen und Neutronen – und doch sind viele Eigenschaften dieser allgegenwärtigen Bausteine der Natur noch nicht verstanden. Insbesondere das Neutron als ungeladenes Teilchen verschließt sich vielen Messungen, und es gibt auch neunzig Jahre nach seiner Entdeckung noch viele offene Fragen, beispiels­weise in Bezug auf seine Größe und seine Lebensdauer. Das Neutron besteht seinerseits aus drei Quarks, die, über Gluonen verbunden, darin umherschwirren. Man nutzt elektro­magnetische Form­faktoren, um diese dynamische innere Struktur des Neutrons zu beschreiben. Die Formfaktoren geben somit eine mittlere Verteilung von elektrischer Ladung und Magnetisierung innerhalb des Neutrons wieder und können experimentell bestimmt werden.

 

 

Abb.: Künstlerische Darstellung des Neutrons und seiner inneren Struktur...
Abb.: Künstlerische Darstellung des Neutrons und seiner inneren Struktur (Bild: X. Zhu, Univ. Sci. Technol., China)

„Ein einzelner Formfaktor, gemessen bei einer bestimmten Energie, sagt zunächst einmal nicht viel aus“, erläutert Frank Maas, Wissenschaftler am Mainzer Exzellenzcluster Prisma+, am Helmholtz-Institut Mainz (HIM) und am GSI Helmholtz­zentrum für Schwerionen­forschung in Darmstadt. „Erst die Kenntnis der Formfaktoren bei verschiedenen Energien erlaubt Rückschlüsse auf die Struktur des Neutrons.“ Für bestimmte Energiebereiche, die über klassische Streu­experimente von Elektronen an Protonen zugänglich sind, sind die Formfaktoren mit guter Genauigkeit bekannt. Für weitere Bereiche, die nur über Annihilations­experimente, bei denen sich Materie und Antimaterie gegenseitig vernichten, zugänglich sind, war dies bisher nicht der Fall.

Nun es ist es gelungen, am BESIII-Experiment in China genau diese Daten für den Energiebereich von 2 bis 3,8 Gigaelektronenvolt zu messen und zwar im Vergleich zu vorherigen Messungen mit mehr als 60-mal größerer Genauigkeit. „Im übertragenen Sinne haben wir einen weißen Fleck auf der ‚Landkarte‘ der Neutron-Formfaktoren, der bisher unbekanntes Terrain war, mit neuen Daten ausgefüllt“, sagt Frank Maas. „Diese sind nun ähnlich präzise wie Daten aus den korrespondieren Streuexperimenten. Dadurch wird sich die Datenlage hinsichtlich der Formfaktoren des Neutrons radikal verändern und wir erhalten auf diese Weise ein weit umfassenderes Bild über diesen wichtigen Baustein der Natur.“

Um in den gewünschten Bereich der Formfaktor-Landkarte vordringen zu können, benötigt man Physiker Antiteilchen. Für ihre Messungen nutzte die internationale Kollaboration daher den Beijing Electron-Positron Collider II. Hier werden Elektronen und ihre positiven Antiteilchen, die Positronen, in einem Beschleuniger zur Kollision gebracht und vernichten sich unter Aussendung verschiedener neuer Teilchenpaare per Annihilation gegenseitig. Den Prozess, bei dem sich aus einem Elektron und einem Positron ein Neutron und ein Anti-Neutron bilden, haben die Forscher mit dem BESIII-Detektor beobachtet und analysiert. „Solche Annihilations­experimente sind bei Weitem nicht so etabliert wie klassische Streuexperimente“, sagt Frank Maas. „Viel Entwicklungsarbeit war nötig, um das aktuelle Experiment durchführen zu können – die Intensität des Beschleunigers musste verbessert und der Detektor für das schwer fassbare Neutron praktisch neu erfunden werden. Auch die Analyse­technik ist alles andere als trivial. Da hat unsere Kollaboration echte Pionierarbeit geleistet.“

Damit noch nicht genug: Bei ihren Messungen haben die Wissenschaftler festgestellt, dass der Formfaktor in Abhängigkeit der Energie keine glatte Linie ergibt, sondern ein oszillierendes Muster zeigt, bei dem die Ausschläge mit zunehmender Energie kleiner werden. Dieses überraschende Verhalten haben sie in ähnlicher Weise beim Proton beobachtet – allerdings sind die Ausschläge gespiegelt, also phasenverschoben. „Das neue Feature spricht zunächst einmal dafür, dass die Nukleonen keine einfache Struktur haben“, erläutert Frank Maas. „Nun sind unsere Kolleginnen und Kollegen in der Theorie gefragt, Modelle für dieses außergewöhnliche Verhalten zu entwickeln.“

Schließlich rückt die BESIII-Kollaboration mit ihren Messungen noch das Bild des Verhältnisses der Formfaktoren von Neutron und Proton zurecht. Hier hatte das Fenice-Experiment vor vielen Jahren ein Verhältnis größer eins gemessen, was bedeutet, dass das Neutron durchgehend einen größeren Formfaktor aufweist als das Proton. „Da das Proton geladen ist, würde man es aber genau umgekehrt erwarten“, so Frank Maas. „Und genau dies sehen wir, wenn wir unsere Daten zum Neutron mit kürzlich bei BESIII gemessenen Daten zum Proton vergleichen. Hier haben wir unser Bild der kleinsten Teilchen also wieder zurechtgerückt.“

Wichtig sind die neuen Erkenntnisse vor allem, weil sie sehr grundlegend sind, meint Frank Maas. „Sie geben einen neuen Einblick in die fundamentalen Eigenschaften des Neutrons. Zudem können wir durch den Blick auf die kleinsten Bausteine der Materie auch Phänomene verstehen, die sich in den größten Dimensionen abspielen – wie die Verschmelzung zweier Neutronen­sterne. Diese Physik der Extreme ist schon sehr faszinierend.“

U. Mainz / DE

 

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