Röntgenlaser: 36 auf einen Streich
Eigentlich unmöglich: 36 Elektronen mit einem einigen Röntgenblitz aus Xenon-Atom geschossen!
Mit dem weltstärksten Röntgenlaser hat ein internationales Forscherteam unter Hamburger Leitung ein überraschendes Verhalten von Atomen entdeckt: Mit einem einzigen Röntgenblitz konnte die Gruppe um Daniel Rolles vom Center for Free-Electron Laser Science (CFEL) die Rekordzahl von 36 Elektronen auf einmal aus einem Xenon-Atom herausschießen. Das sind deutlich mehr, als bei der Energie der verwendeten Röntgenstrahlung rechnerisch überhaupt möglich ist. Die Forscher um Rolles hatten an der Linac Coherent Light Source (LCLS) des US-Forschungszentrums SLAC in Kalifornien Atome des Edelgases Xenon mit intensiven Röntgenlaserblitzen beschossen. Die Photonen der verwendeten Röntgenstrahlung hatten 1,5 Kiloelektronenvolt. Rechnerisch lassen sich bei der verwendeten Energie bis zu 26 der 54 Elektronen des Edelgases herausschießen, die übrigen sind zu stark gebunden. Tatsächlich beobachteten die Wissenschaftler jedoch, dass bis zu 36 Elektronen aus den Atomen flogen. „Nach unserem Wissen ist das die höchste Ionisation, die jemals mit einem einzigen elektromagnetischen Impuls in einem Atom erreicht worden ist“, betont Rolles. „Unsere Beobachtung zeigt, dass die bestehenden theoretischen Ansätze modifiziert werden müssen.“
Abb.: Die Experimentierkammer CAMP war drei Jahre an der LCLS aufgebaut und kam bei mehr als 20 Experimenten zum Einsatz. (Bild: B. Plummer, SLAC NAL)
Ursache für die „unmögliche“ Ionisation ist eine Resonanz: Im verwendeten Energiebereich können die Xenon-Elektronen sehr viel Röntgenstrahlung aufnehmen. Manche werden dadurch direkt aus dem Atom hinausbefördert, andere gehen in einen angeregten Zustand über, sind aber noch gebunden. Fällt eines der angeregten Elektronen jedoch in seinen Ausgangszustand zurück, wird wiederum Energie frei, die einem anderen angeregten Elektron den nötigen Extra-Schubs geben kann, um es ganz aus dem Atom zu befördern. In seltenen Fällen wird auch das bereits angeregte Elektron von einem zweiten Photon aus dem Röntgenblitz getroffen und so aus der Atomhülle geschossen.
„Das LCLS-Experiment hat einen unerwarteten und zuvor unerreichten Ladungszustand produziert, indem gleich Dutzende Elektronen aus einem Atom katapultiert wurden“, unterstreicht Benedikt Rudek, Doktorand am Heidelberger Max-Planck-Institut für Kernphysik, der die Daten analysiert hat. „Die absorbierte Energie pro Atom war mehr als doppelt so hoch wie erwartet.“ Dieser Resonanzeffekt ist für Xenon gerade bei einer Energie von 1,5 keV besonders stark. Entsprechend beobachteten die Forscher selbst bei einer höheren Energie von 2 keV nur weniger stark ionisierte Atome. Auf Grundlage der Messungen verfeinerten CFEL-Wissenschaftler ein mathematisches Modell, mit dem sich solche Resonanzen in schweren Atomen berechnen lassen. In Folgeexperimenten haben Forscher unter anderem Krypton und Moleküle mit schweren Atomen an der LCLS untersucht, wie Ko-Autor Artem Rudenko betont, der inzwischen an der Kansas State University arbeitet und eines dieser Folgeexperimente geleitet hat.
Die Beobachtungen haben auch praktische Bedeutung für die Forschung: „Unsere Ergebnisse liefern ein Rezept, um den Elektronenverlust in einer Probe zu maximieren“, erläutert Rolles. Das kann erwünscht oder unerwünscht sein. „Beispielsweise können Forscher unsere Ergebnisse nutzen, die ein sehr stark elektrisch geladenes Plasma erzeugen wollen.“ Bei der Untersuchung biologischer Proben hingegen sollten Wissenschaftler die Resonanzbereiche solcher schweren Atome vermeiden. „Die meisten biologischen Proben enthalten einige schwere Atome", betont Rolles. Im Resonanzbereich werden solche Proben an diesen Stellen besonders schnell beschädigt, was die Abbildungsqualität beeinträchtigen kann.
Für die Präzisionsmessungen an der LCLS diente eine von der Max Planck Advanced Study Group (ASG) am CFEL zusammen mit dem Max-Planck-Institut für Kernphysik, dem Max-Planck-Institut für medizinische Forschung und dem Max-Planck-Institut Halbleiterlabor entwickelte Experimentierkammer, die in insgesamt 40 Kisten komplett nach Kalifornien verschifft wurde. Diese CFEL-ASG Multi-Purpose chamber (CAMP) war drei Jahre an der LCLS aufgebaut und kam bei mehr als 20 Experimenten zum Einsatz.
DESY / OD