01.09.2022

Sternenwiege im galaktischen Zentrum

Durchmusterung des Zentrums der Milchstraße zeigt Entwicklungsmuster starker Sternentstehung.

In der zentralen Region der Milchstraße sind die Sterne deutlich dichter gedrängt als in anderen Bereichen unserer Galaxie. Astronomen hegen bereits länger die Hoffnung, diese Regionen unserer Heimat­galaxie als eine Art Labor zur Untersuchung besonders schneller und produktiver Sternentstehung nutzen zu können – eines Phänomens, das in zahlreichen anderen Galaxien auftritt, insbesondere in den ersten Milliarden Jahren der kosmischen Geschichte. Bislang stand dem allerdings entgegen, dass es gerade aufgrund der großen Anzahl von Sternen im galaktischen Zentrum schwierig ist, jene Sterne systematisch zu untersuchen.

 

Abb.: Falschfarbenbild der Region Sagittarius B1. Anhand der Daten, die diesem...
Abb.: Falschfarbenbild der Region Sagittarius B1. Anhand der Daten, die diesem Bild zugrunde liegen, ließen sich drei Millionen Sterne im galaktischen Zentrum identifizieren. (Bild: F. Nogueras-Lara et al. / MPIA)

Eine neue Analyse auf der Grundlage einer hochauflösenden Infrarot­durchmusterung liefert nun eine erste repräsentative Rekonstruktion der Sternentstehungsgeschichte in der galaktischen Zentralregion. Sie zeigt außerdem, dass die meisten jungen Sterne im galaktischen Zentrum nicht in massereichen, durch die gegenseitige Schwerkraft eng gebundenen Sternhaufen entstanden sein dürften, sondern in deutlich weniger stark gebundenen Sternassoziationen, deren Sterne sich im Laufe der vergangenen Millionen von Jahren zerstreut haben.

Unsere Milchstraße ist keine sehr produktive Galaxie. Die neuen Sterne, die in einem Jahr in unserer Heimatgalaxie entstehen, machen zusammengenommen nicht mehr als ein paar Sonnenmassen aus. Starburst-Galaxien sind deutlich effektiver: Während kurzer Episoden, die nur einige Millionen Jahre dauern, entstehen jedes Jahr Dutzende oder gar Hunderte von Sonnenmassen an neuen Sternen. Vor zehn Milliarden Jahren scheint diese Art von hoher Aktivität der Sternentstehung, bei der jedes Jahr Dutzende von Sonnenmassen an neuen Sternen produziert werden, sogar die Norm für Galaxien gewesen zu sein.

Für Astronomen ist unsere Milchstraße nicht nur für sich genommen interessant, sondern immer auch ein Werkzeug, mit dessen Hilfe sich etwas über die Eigenschaften von Galaxien im Allgemeinen lernen lässt. Schließlich ist die Milchstraße die einzige Galaxie, die wir aus unmittelbarer Nähe untersuchen können. In Anbetracht der geringen Sternentstehungs­aktivität unserer Heimatgalaxie könnte man meinen, dass sie uns allerdings nicht beim besseren Verständnis von Starbursts und anderen Phasen hochproduktiver Sternentstehung helfen kann. Das wäre aber ein Fehlschluss: In den zentralen Regionen der Milchstraße, bis zu Abständen von rund 1300 Lichtjahren vom zentralen Schwarzen Loch unserer Galaxie, waren die Sternentstehungsraten in den letzten 100 Millionen Jahren zehnmal höher als im Durchschnitt. Die Kernregion unserer Galaxie ist so produktiv wie eine Starburst-Galaxie oder wie die hyperproduktiven Galaxien von vor zehn Milliarden Jahren.

Allerdings ist es gar nicht so einfach, diese Zentralregionen genauer zu untersuchen. Zunächst einmal sind sie von der Erde aus gesehen hinter großen Mengen von Staub verborgen. Doch zumindest dieses Problem lässt sich lösen, wenn man die Beobachtungen mit Infrarot-, Millimeterwellen- oder Radiostrahlung durchführt. Mit dem Licht solcher Wellenlängen kann man durch Staubwolken weitgehend hindurchschauen. So haben die Gruppen von Andrea Ghez und Reinhard Genzel ihre nobelpreis­gekrönten Beobachtungen von Sternen durchgeführt, die das zentrale Schwarze Loch unserer Galaxie umkreisen (Nahinfrarotbeobachtungen), und so hat die Event Horizon Collaboration das erste Bild des Schattens des zentralen Schwarzen Lochs unserer Galaxie erstellt (Beobachtungen mit Millimeterwellen bei 1,3 mm).

Allerdings ist das nicht das einzige Problem. Gerade weil die Sterne im galaktischen Zentrum so dicht gedrängt sind, sind systematische Untersuchungen an jenen Sternen eine Herausforderung. Es ist nämlich alles andere als einfach, in so einer dichtgedrängten Menge überhaupt einen Stern vom nächsten zu unterscheiden. Einzige Ausnahme sind vereinzelte, sehr helle Riesensterne, die besonders leuchtstark sind, auf diese Weise aus der Masse herausragen und daher vergleichsweise leicht vom Rest zu unterscheiden sind.

Das Problem, in diesem Gewimmel einzelne Sterne zu studieren, beschäftigt die Astronomie bereits seit einigen Jahren. Dass es in jenen Regionen in den letzten ein bis zehn Millionen Jahren hochproduktive Sternentstehung gegeben hat, steht außer Frage – das Vorhandensein von Wasserstoffgas, das durch UV-Licht von heißen, jungen Sternen in seine Bestandteile aufgespalten (ionisiert) wird, sowie Röntgen­strahlung, die für bestimmte Arten von jungen, sehr massereichen Sternen charakteristisch ist, belegen dies. Aber die Frage „Wo sind dann die resultierenden jungen Sterne?“ blieb offen. Vor der hier beschriebenen neuen Analyse hatten die Astronomen nur rund zehn Prozent der erwarteten Gesamtsternmasse im galaktischen Zentrum gefunden – in zwei massereichen Sternhaufen sowie in Form einiger isolierter junger Sterne. Wo waren all die anderen Sterne, und welche Eigenschaften hatten sie?

Das war die Ausgangsfrage für die Autoren des jetzt neu veröffentlichten Artikels. Francisco Nogueras-Lara, unabhängiger Humboldt-Forschungsstipendiat in der Lise-Meitner- Gruppe von Nadine Neumayer am Max-Planck-Institut für Astronomie, und ihr Kollege Rainer Schödel vom Instituto de Astrofísica de Andalucía in Granada, Spanien, waren dabei in einer besonders guten Ausgangsposition für die Suche nach den fehlenden jungen Sternen im galaktischen Zentrum: Schödel ist Leiter von „Galacticnucleus“. Im Rahmen dieser Durchmusterung wurden mit der Infrarot­kamera Hawk-I am Very Large Telescope (VLT) der Europäischen Südsternwarte fast 150 Bilder (in den Infrarotbändern J, H und Ks) von der Zentralregion der Milchstraße angefertigt. Die Bilder decken insgesamt ein Gebiet von 64.000 Quadratlichtjahren rund um das galaktische Zentrum ab.

Unter der Leitung von Nogueras-Lara begann dann die Suche nach den fehlenden jungen Sternen. Um einzelne Sterne in einer solcherart überfüllten Himmelsregion zu identifizieren, ist eine hohe Auflösung erforderlich. Jedes der vier VLT-Teleskope besitzt einen Acht-Meter-Spiegel. Mit holografischer Bildgebung – dabei werden mehrere kurz belichtete Bilder in geeigneter Weise kombiniert, um die Unschärfeeffekte der Erdatmosphäre auszugleichen – gelang es im Rahmen der Durchmusterung, die Zielregion viel feiner als je zuvor zu kartieren, mit einer Auflösung von 0,2 Bogensekunden. Wo zuvor nur eine Handvoll Sterne kartiert werden konnte, lieferte Galacticnucleus individuelle Daten für drei Millionen Sterne.

Als sich die Forscher Bilder der Galacticnucleus-Durchmusterung anschauten, fiel ihnen sofort die als Sagittarius B1 bekannte Region im galaktischen Zentrum ins Auge. Diese Region enthält wesentlich mehr junge Sterne, die das umgebende Gas ionisieren, als andere Regionen. Diese Besonderheit der Region kam nicht überraschend. Frühere Beobachtungen hatten das bereits gezeigt. Selbst mit ihrer hochauflösenden Durchmusterung konnten die Astronomen zwar nur Riesensterne individuell untersuchen und keine Hauptreihensterne wie unsere Sonne, aber die Daten der drei Millionen Sterne, die sie separat untersuchen konnten, enthielten bereits eine Fülle von Informationen. Insbesondere konnten die Astronomen die Helligkeit jedes einzelnen Sterns ableiten. Dafür mussten sie die Abschwächung des Sternenlichts durch den Staub zwischen uns und dem betreffenden Stern dokumentieren und herausrechnen. Alle Sterne in Sagittarius B1 sind etwa gleich weit von der Erde entfernt, und die Entfernung von der Erde zum galaktischen Zentrum ist bekannt. Mit diesen Informationen konnten die Astronomen die Leuchtkraft jedes Sterns rekonstruieren, also die Lichtmenge, die ein Stern pro Zeiteinheit aussendet.

Besonders interessant ist dabei die statistische Verteilung der Leuchtkraft dieser Sterne, sprich: wie viele Sterne jeder „Helligkeitsstufe“ sich in Sagittarius B1 befinden. Bei Sternen, die gleichzeitig geboren wurden, ändert sich diese Helligkeits­verteilung im Laufe der Zeit auf regelmäßige und vorhersehbare Weise. Im Umkehrschluss lässt sich aus solch einer Helligkeitsverteilung zumindest eine grobe Geschichte der Sternentstehung ableiten: Wie viele Sterne sind vor mehr als sieben Milliarden Jahren entstanden? Wie viele etwa in der Zeit zwischen zwei und sieben Milliarden Jahren? Wie viele in jüngerer Zeit? Die Leuchtkraftverteilung liefert zumindest eine statistische Antwort auf diese Fragen.

Als Nogueras-Lara, Neumayer und Schödel die Leuchtkraftverteilung analysierten, stellten sie fest, dass es in Sagittarius B1 tatsächlich mehrere Phasen der Sternentstehung gegeben hatte: eine ältere Population von Sternen, die sich vor zwei bis sieben Milliarden Jahren gebildet hatten, und eine große Population deutlich jüngerer Sterne, die nur zehn Millionen Jahre alt oder sogar noch jünger waren. Nogueras-Lara sagt: „Das ist ein beachtlicher Fortschritt bei der Suche nach jungen Sternen im galaktischen Zentrum. Die jungen Sterne, die wir gefunden haben, haben eine Gesamtmasse von mehr als 400.000 Sonnenmassen. Das ist fast zehnmal so viel wie die kombinierte Masse der beiden massereichen Sternhaufen, die bisher in der Zentralregion bekannt waren.“

Die untersuchten Sterne in der Region Sagittarius B1 sind nicht Teil eines massereichen Sternhaufens, sondern locker verteilt. Das deutet darauf hin, dass sie in einer oder mehreren sogenannten Stern­assoziationen entstanden sind. Deren Sterne sind durch ihre wechselseitige Schwerkraft von vornherein weniger stark aneinander gebunden. Auf ihrer Umlaufbahn um das galaktische Zentrum würden sich solche Sternassoziationen auf Zeitskalen von mehreren Millionen Jahren ganz auflösen – zurück bleiben zahlreiche einzelne Sterne. Und auch wenn sich dieses Resultat erst einmal direkt auf Sagittarius B1 bezieht, könnte es ganz allgemein erklären, warum die jungen Sterne im galaktischen Zentrum nur durch hochauflösende Studien wie die vorliegende Arbeit gefunden werden können: wenn ein großer Teil von ihnen ebenso in lockeren Sternassoziationen entstanden ist, die sich inzwischen in Einzelsterne aufgelöst haben.

Interessant ist sind auch die älteren Sternpopulationen in Sagittarius B1. In den innersten Regionen des galaktischen Zentrums gibt es Sterne, die älter sind als sieben Milliarden Jahre, aber praktisch keine Sterne im mittleren Altersbereich zwischen zwei und sieben Milliarden Jahren. Das legt nahe, dass die Stern­entstehung in der Zentralregion in der innersten Region begann und sich dann auf die äußeren Regionen ausbreitete. Bei anderen Galaxien wurde solch ein allgemeiner räumlicher Trend bei der Sternentstehung, von innen nach außen, für die zentralen inneren Sternscheiben bereits beobachtet. Den neuen Analysen nach gab es in der zentralen Region unserer Heimatgalaxie einen sehr ähnlichen räumlichen Trend.

So überzeugend die Beweise aus den Infrarotbildern bereits sind, sowohl für die Rekonstruktion der Sternentstehungs­geschichte als auch für den Gesamttrend der Sternentstehung, so sehr sind die Astronomen bestrebt, ihre Schluss­folgerungen auf eine noch solidere Grundlage zu stellen. Zu diesem Zweck planen Nogueras-Lara und seine Kollegen, ihre Beobachtungen mit dem KMOS-Instrument am VLT weiterzuverfolgen, einem hochpräzisen Spektrografen. Die Rückschlüsse der jetzt veröffentlichten Studie zur Sternentstehung wurden statistisch, auf der Grundlage der Verteilung der Leuchtkräfte der identifizierten Sterne getroffen. Spektralbeobachtungen würden es ermöglichen, einige der sehr jungen Sterne direkt anhand des Aussehens ihrer Spektren zu identifizieren. Das wäre eine wichtige Möglichkeit, die jetzt veröffentlichten Ergebnisse zu überprüfen.

Darüber hinaus wollen die Astronom die Bewegungen der neu entdeckten Sterne am Himmel verfolgen – die Eigenbewegung jener Sterne. In der Nähe des galaktischen Zentrums bewegen sich die Sterne vergleichsweise schnell. Obwohl sich diese Sterne in einer Entfernung von etwa 26.000 Lichtjahren von der Erde befinden, wird man deshalb durch sorgfältige Beobachtungen im Laufe einiger Jahre ihre Positions­veränderungen am Himmel messen können. Sterne, die in ein und demselben Sternverband entstanden sind, zerstreuen sich im Laufe der Zeit, behalten dabei aber ungefähr eine einheitliche Bewegungs­richtung bei. Aus den Eigenbewegungen ließen sich deswegen Rückschlüsse ziehen, ob die Sterne in Sagittarius B1 tatsächlich in einem oder mehreren losen Verbänden geboren wurden.

MPIA / DE

 

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