Superfluoreszierende Riesenkristalle
Supergitter aus Nanokristallen mit überraschenden Eigenschaften bilden eigenständig Strukturen.
Ein internationales Team unter Leitung von Empa- und ETH-Forschern spielt mit 3D-Bausteinen im Nanobereich, die bis zu hundert Mal größer sind als Atome und Ionen. Und obwohl zwischen diesen „Nano-Legosteinen“ ganz andere, viel schwächere Kräfte wirken als jene, die Atome und Ionen zusammenhalten, bilden sie ganz von selbst Kristalle, deren Strukturen natürlichen Mineralien gleichen. Diese neuen Megakristalle oder Supergitter, wie sie auf dem Cover der neuesten Ausgabe von Nature zu sehen sind, zeigen einzigartige Eigenschaften wie Superfluoreszenz – und könnten eine neue Ära in der Materialwissenschaft einläuten.
Viele natürlich vorkommende Mineralien bestehen aus Ionen – positiven Metallionen und negativen Gegenionen, die sich je nach ihrem Größenverhältnis in unterschiedlichen Kristallgitterstrukturen anordnen. Darüber hinaus gibt es Strukturen wie Diamant und Silizium: Diese Kristalle bestehen nur aus einer Sorte von Atomen – im Fall von Diamant aus Kohlenstoff –, aber auch hier werden die einzelnen Atome, ähnlich wie die Ionen in Mineralien, durch starke Bindungskräfte zusammengehalten.
Was wäre, wenn man all diese starken Bindungskräfte zwischen den Atomen einfach ausschalten könnte? Im Reich der Atome, mit all der Quantenmechanik, die im Spiel ist, würde dies kein Molekül und auch keine Festkörper ergeben, zumindest nicht bei Umgebungsbedingungen. „Aber die moderne Chemie kann alternative Bausteine herstellen, die tatsächlich ganz andere Wechselwirkungen haben können als die zwischen Atomen“, sagt Maksym Kovalenko, Forscher an der Empa und Professor für Chemie an der ETH Zürich. „Sie können hart wie Billardkugeln sein, in dem Sinne, dass sie sich nur bei einem Zusammenprall gegenseitig wahrnehmen. Oder sie können an den Oberflächen weicher sein, wie Tennisbälle. Außerdem können sie in vielen verschiedenen Formen hergestellt werden, also nicht nur als Kugeln, sondern auch als Würfel oder andere Polyeder, oder sogar in Form von anisotropen, unregelmäßigen Gebilden.“
Solche Bausteine bestehen aus Hunderten oder Tausenden von Atomen und werden als anorganische Nanokristalle bezeichnet. Kovalenkos Team an der Empa und der ETH Zürich ist in der Lage, sie in großen Mengen und sehr homogen zu synthetisieren. Kovalenko, Bodnarchuk und einige ihrer Kollegen auf der ganzen Welt arbeiten schon seit rund zwanzig Jahren mit solchen Bausteinen. Die Wissenschaftler nennen sie „Lego-Materialien“, weil sie dichte, weiträumig geordnete Gitterstrukturen, also Supergitter, bilden.
Schon lange wurde spekuliert, dass sich durch das Mischen verschiedener Arten von Nanokristallen völlig neue supramolekulare Strukturen herstellen lassen. Man erwartete, dass die elektronischen, optischen oder magnetischen Eigenschaften solcher Multikomponentenanordnungen eine Mischung aus den Eigenschaften der einzelnen Komponenten sein würden. Zunächst konzentrierten sich die Forscher auf das Mischen von Kugeln unterschiedlicher Größe, was zu Dutzenden verschiedener Supergitter mit Strukturen führte, die gewöhnlichen Kristallstrukturen, etwa von Kochsalz, ähneln – allerdings mit zehn bis hundert Mal größeren Kristalleinheitszellen.
Dem Team um Kovalenko und Bodnarchuk gelang es nun, dieses Wissen deutlich zu erweitern: Sie machten sich daran, eine Mischung verschiedener Formen zu untersuchen – zunächst Kugeln und Würfel. Diese scheinbar simple Abweichung von den bisherigen Versuchsanordnungen führte sofort zu ganz anderen Beobachtungen. Die würfelförmigen Nanokristalle, kolloidale Cäsium-Bleihalogenid-Perowskit-Nanokristalle, gelten seit ihrer erstmaligen Herstellung durch dasselbe Forschungsteam vor rund sechs Jahren als einige der hellsten bisher entwickelten Lichtstrahler. Die nun hergestellten Supergitter sind nicht nur hinsichtlich ihrer Struktur einzigartig, sondern auch in Bezug auf einige ihrer Eigenschaften. Insbesondere zeigen sie Superfluoreszenz – das heißt, sie strahlen das Licht kollektiv und viel schneller ab, als es dieselben Nanokristalle in ihrem herkömmlichen Zustand, als Flüssigkeit oder als Pulver, tun können.
Beim Mischen von Kugeln und Würfeln geschehen wundersame Dinge: Die Nanokristalle ordnen sich zu Strukturen an, die man aus der Welt der Mineralien wie Perowskite oder Steinsalz kennt. Die neuen Strukturen sind jedoch hundert Mal größer als ihre Pendants in herkömmlichen Kristallen. Und mehr noch: Eine Perowskit-ähnliche Struktur war zuvor noch nie in der Anordnung solcher nicht wechselwirkender Nanokristalle beobachtet worden.
Besonders kurios: Diese hochgradig geordneten Strukturen entstehen allein durch die Kraft der Entropie – also dem ewigen Bestreben der Natur, maximale Unordnung hervorzurufen. Dieses paradoxe Verhalten kommt zustande, weil die Teilchen während der Kristallbildung dazu neigen, den Raum um sich herum möglichst effizient zu nutzen, um ihre Bewegungsfreiheit in den späten Phasen der Lösungsmittelverdampfung zu maximieren, kurz bevor sie in ihrer späteren Kristallgitterposition fixiert werden. In dieser Hinsicht spielt die Form der einzelnen Nanokristalle eine entscheidende Rolle – weiche Perowskit-Würfel erlauben eine viel dichtere Packung als jene, die in Mischungen nur aus Kugeln erreicht werden kann. Die Kraft der Entropie sorgt also dafür, dass sich die Nanokristalle immer in einer möglichst dichten Packung anordnen – sofern die Oberfläche der Kristallite so gestaltet ist, dass sie sich nicht gegenseitig anziehen oder abstoßen, etwa durch elektrostatische Kräfte.
„Unsere Experimente haben gezeigt, dass wir neue Strukturen mit hoher Zuverlässigkeit herstellen können“, so Maksym Kovalenko. „Und das wirft nun viele weitere Fragen auf, wir stehen noch ganz am Anfang: Welche physikalischen Eigenschaften weisen solche schwach gebundenen Supergitter auf, und wie hängt ihre Struktur mit den beobachteten Eigenschaften zusammen? Können wir sie für bestimmte technische Anwendungen nutzten, etwa für optische Quantencomputer oder in der Quantenbildgebung? Nach welchen mathematischen Gesetzen bilden sie sich? Sind sie wirklich thermodynamisch stabil oder nur in einer kinetischen Barriere gefangen?“ Kovalenko ist nun auf der Suche nach Theoretikern, die vielleicht vorhersagen können, was noch alles passieren könnte.
„Wir werden irgendwann ganz neue Klassen von Kristallen entdecken“, vermutet er, „solche, für die es keine natürlichen Vorbilder gibt. Sie müssen dann vermessen, klassifiziert und beschrieben werden.“ Nachdem er nun das erste Kapitel im Lehrbuch für eine neue Art von Chemie aufgeschlagen hat, will Kovalenko mit seinem Team dafür sorgen, dass es rasch vorangeht: „Wir experimentieren zurzeit mit scheiben- und zylinderförmigen Nanokristalliten. Und wir sind sehr gespannt auf die neuen Strukturen, die wir da bald zu sehen bekommen werden“, lächelt er.
Empa / DE