Taumelnder Röntgenpulsar
Polarisationsgrad von Hercules X-1 viel niedriger als theoretisch vorhergesagt.
Gleich die erste direkte Messung der Polarisation eines Röntgenpulsars, eines rotierenden magnetisierten Neutronensterns, durch das Weltraumteleskop IXPE (Imaging X-ray Polarimetry Explorer) stellte bisherige Modelle solcher Systeme in Frage. Der Polarisationsgrad des Röntgenpulsars Hercules X-1 war viel niedriger als theoretisch vorhergesagt, sodass die Vorstellungen der Astrophysiker von der Geometrie und Struktur der Materieflüsse grundlegend überdacht werden müssen. Den neuen Erkenntnissen zufolge liegen die Drehachse und die magnetische Achse des Neutronensterns, als auch die Richtung des Drehimpulses in diesem Doppelsternsystem, nicht in einer Linie, sodass das Objekt sich taumelnd wie ein Kreisel bewegt.
Röntgenpulsare haben Durchmesser von nur etwa zehn Kilometern, sind aber schwerer als die Sonne und haben ein Magnetfeld, das mehrere Milliarden Mal stärker ist als alle Magnetfelder, die wir auf der Erde kennen. Sie bilden ein Doppelsternsystem mit einem normalen Stern, der Materie über ein Magnetfeld wie über einen Trichter in die Polregionen des Pulsars überfließen lässt. Dies zur Freisetzung immenser Energien und macht Röntgenpulsare zu sehr hellen Quellen am Röntgenhimmel. Nun liefert die IXPE-Mission, die zu Beginn dieses Jahres startete, eine neue Perspektive auf diese Objekte.
IXPE ist die erste Pioniermission, bei der polarisierte Röntgenstrahlen von Himmelsobjekten gemessen werden können. „Her X-1 war der erste Röntgenpulsar, der von IXPE beobachtet wurde. Wir waren sehr überrascht, dass dabei nur eine niedrige Polarisation beobachtet wurde, was unsere theoretischen Vorhersagen über den Haufen warf. Wir haben das noch nicht verstanden“, sagt Victor Doroshenko vom Institut für Astronomie und Astrophysik der Universität Tübingen. Der durchschnittliche Polarisationsgrad von etwa 8,6 Prozent, der von IXPE mit hoher Genauigkeit gemessen wurde, sei viel niedriger als die erwarteten rund achtzig Prozent, die durch theoretische Arbeiten vorhergesagt waren. „Eine solch große Diskrepanz impliziert, dass bisherige Modelle des Strahlungstransports in stark magnetisierten Plasmen, die sich an den Polen der Neutronensterne sammeln, und unsere Ideen bezüglich der Geometrie und Struktur der Emissionsregion in Her X-1 – und wahrscheinlich weiterer Pulsare – im Licht der IXPE-Ergebnisse grundlegend überdacht werden müssen“, setzt Juri Poutanen von der finnischen Universität Turku hinzu.
„Ich habe Her X-1 fast mein ganzes Leben lang untersucht, und er überrascht mich immer wieder“, sagt Rüdiger Staubert vom Tübinger Institut für Astronomie und Astrophysik. „Es ist der erste Röntgenpulsar, bei dem wir das magnetische Feld des Neutronensterns direkt messen konnten. Und es ist eines der meistuntersuchten Objekte seiner Art. Aber wir sind noch weit davon entfernt, es völlig zu verstehen“, sagt Staubert. Trotz aller neuen Rätsel betrachtet das Forschungsteam die neuen Ergebnisse als grundlegende Erkenntnisse. „Erstmals seit der Entdeckung von Röntgenpulsaren vor fünf Jahrzehnten war es möglich, durch das Studium der Änderungen des Polarisationswinkels mit der Phase der Eigendrehung den Winkel zwischen der Drehachse und der magnetischen Dipolachse zu messen. Diese Informationen benötigen wir, um die Emission aus solchen Objekten zu modellieren“, erklärt Doroshenko. „Diese röntgenpolarimetrischen Beobachtungen haben wir mit früheren optischen polarimetrischen Messungen kombiniert. So konnten wir belegen, dass die Drehachse des Pulsars nicht in einer Linie mit dem Bahndrehimpuls liegt. Das deutet – wie auch andere frühere Beobachtungen – darauf hin, dass der Neutronenstern taumelt wie ein auslaufender Spielzeugkreisel.“
Der ultimative Beleg dafür werde später in diesem Jahr erwartet, wenn IXPE den Röntgenpulsar Her X-1 in einer anderen Phase seines 35-Tage-Zyklus beobachten soll, berichtet Andrea Santangelo vom Institut für Astronomie und Astrophysik. „IXPE startet gerade erst jetzt das neue Beobachtungsfenster der Röntgenpolarimetrie und ebnet den Weg für die nächste Generation von Röntgenpolarimetern. Es ist erst der Anfang eines großen Abenteuers“, setzt er hinzu.
U. Tübingen / JOL