08.03.2022

Vampir-System statt eines schwarzen Loches

Studie über das der Erde am nächsten gelegene schwarze Loch widerlegt.

Im Jahr 2020 meldete ein Team unter der Leitung von Astronomen und Astro­nominnen der Euro­päischen Südstern­warte ESO das der Erde am nächsten gelegene schwarze Loch, das sich in nur eintausend Lichtjahren Entfernung im System HR 6819 befindet. Die Ergebnisse ihrer Studie wurden jedoch von anderen Forschenden angefochten, darunter auch von einem internationalen Team an der KU Leuven in Belgien. Nun haben sich diese beiden Teams zusammen­geschlossen, um zu berichten, dass es in HR 6819 tatsächlich kein schwarzes Loch gibt, sondern dass es sich stattdessen um ein Zwei-Sterne-„Vampir“-System in einem seltenen und kurz­lebigen Stadium seiner Entwicklung handelt.

Abb.: Illustration des Systems HR 6819. (Bild: L. Calçada, ESO)
Abb.: Illustration des Systems HR 6819. (Bild: L. Calçada, ESO)

Die ursprüngliche Studie über HR 6819 fand sowohl bei der Presse als auch bei Wissen­schaftlern und Wissen­schaftlerinnen große Beachtung. Thomas Rivinius, ein in Chile ansässiger Eso-Astronom, war nicht überrascht von der Reaktion der Fachwelt auf ihre Entdeckung des schwarzen Lochs. „Es ist nicht nur normal, sondern sollte auch so sein, dass Ergebnisse hinter­fragt werden“, sagt er, „und ein Ergebnis, das Schlagzeilen macht, erst recht.“ ;Rivinius und seine Kollegen und Kolle­ginnen waren davon überzeugt, dass die beste Erklärung für die Daten, die sie mit dem 2,2-Meter-Teleskop der MPG/ESO gewonnen hatten, darin bestand, dass HR 6819 ein Dreifach­system war, bei dem ein Stern alle vierzig Tage ein schwarzes Loch umkreist und ein zweiter Stern in einer viel weiteren Umlaufbahn.

Aber eine Studie unter der Leitung von Julia Bodensteiner, damals Doktorandin an der belgischen KU Leuven schlug eine andere Erklärung für dieselben Daten vor: HR 6819 könnte auch ein System mit nur zwei Sternen auf einer vierzig­tägigen Umlaufbahn sein und überhaupt kein schwarzes Loch aufweisen. Dieses alternative Szenario würde voraussetzen, dass einer der Sterne „abgetragen“ wurde, was bedeutet, dass er zu einem früheren Zeitpunkt einen großen Teil seiner Masse an den anderen Stern verloren hat. „Wir hatten die Grenze der vorhandenen Daten erreicht, so dass wir eine andere Beobachtungs­strategie anwenden mussten, um zwischen den zwei von den beiden Teams vorge­schlagenen Szenarien zu entscheiden“, sagt die KU Leuven-Forscherin Abigail Frost.

Um das Rätsel zu lösen, arbeiteten die beiden Teams zusammen, um neue, schärfere Daten von HR 6819 mit dem Very Large Telescope (VLT) und dem Very Large Telescope Inter­ferometer (VLTI) der Eso zu erhalten. „Das VLTI war die einzige Einrichtung, die uns die entscheidenden Daten liefern konnte, die wir brauchten, um zwischen den beiden Erklärungen zu unterscheiden“, sagt Dietrich Baade. Da es keinen Sinn machte, dieselbe Beobachtung zweimal anzu­fordern, schlossen sich die beiden Teams zusammen und konnten so ihre Ressourcen und ihr Wissen bündeln, um die wahre Natur dieses Systems zu ergründen. „Die Szenarien, nach denen wir suchten, waren ziemlich klar, sehr unterschiedlich und mit dem richtigen Instrument leicht zu unterscheiden“, sagt Rivinius. „Wir waren uns einig, dass es in dem System zwei Lichtquellen gibt. Die Frage war also, ob sie einander eng umkreisen, wie im Szenario des abge­streiften Sterns, oder weit voneinander entfernt sind, wie im Szenario des schwarzen Lochs.“

Um zwischen den beiden Vorschlägen zu unterscheiden, verwendeten die Astronomen und Astro­nominnen sowohl das Gravity-Instrument des VLTI als auch das Instrument Multi Unit Spectro­scopic Explorer (MUSE) am VLT. „MUSE bestätigte, dass es keinen hellen Begleiter in einer weiteren Umlaufbahn gab, während die hohe räumliche Auflösung von Gravity in der Lage war, zwei helle Quellen aufzulösen, die nur durch ein Drittel der Entfernung zwischen Erde und Sonne getrennt waren“, sagt Frost. „Diese Daten erwiesen sich als das letzte Teil des Puzzles und erlaubten uns die Schluss­folgerung, dass HR 6819 ein Doppelstern­system ohne schwarzes Loch ist.“

„Unsere beste Interpretation bisher ist, dass wir dieses Doppelstern­system in einem Moment erwischt haben, kurz nachdem einer der Sterne die Atmosphäre von seinem Begleitstern abgesaugt hatte. Dies ist ein häufiges Phänomen in engen Doppelstern­systemen, das in der Presse manchmal als „stellarer Vampirismus“ bezeichnet wird“, erklärt Bodensteiner. „Während der abgebende Stern einen Teil seines Materials verlor, begann der empfangende Stern, sich schneller zu drehen.“ „Es ist extrem schwierig, eine solche Phase nach dem Austausch zu erfassen, da sie so kurz ist“, fügt Frost hinzu. „Das macht unsere Ergebnisse für HR 6819 sehr aufregend, denn er ist ein perfekter Kandidat, um zu untersuchen, wie dieser Vampirismus die Entwicklung masse­reicher Sterne beeinflusst und damit auch die Entstehung der damit verbundenen Phänomene wie Gravitations­wellen und heftige Supernova­explosionen.“

Das neu gebildete gemeinsame Team plant nun, HR 6819 mit dem Gravity-Instrument genauer zu beobachten. Die Forschenden werden eine gemeinsame Studie über das System im Laufe der Zeit durchführen, um seine Entwicklung besser zu verstehen, seine Eigenschaften einzu­grenzen und dieses Wissen zu nutzen, um mehr über andere Doppelstern­systeme zu erfahren. Was die Suche nach schwarzen Löchern angeht, bleibt das Team optimistisch. „Stellare schwarze Löcher sind aufgrund ihrer Beschaffen­heit nach wie vor sehr schwer zu finden“, sagt Rivinius. „Aber Schätzungen in Größen­ordnungen deuten darauf hin, dass es allein in der Milchstraße Dutzende bis Hunderte von Millionen schwarzer Löcher gibt“, fügt Baade hinzu. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Astronomen oder Astro­nominnen sie entdecken.

MPIA / JOL

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