Vereinheitlichen und Streuen
Vor 150 Jahren wurde der Physiker Gustav Mie geboren, dessen Name vor allem mit seiner Theorie zur Lichtstreuung verbunden ist.
Die Mie-Streuung dürfte vielen aus der Optik bekannt sein. Dabei handelt es sich um die elastische Streuung elektromagnetischer Wellen an sphärischen Objekten. Der Entdecker und Namensgeber dieses Phänomens ist dagegen heute kaum noch bekannt, dabei war er einer der ersten, der mit Einstein über Gravitationstheorien diskutierte. Gustav Mies Drang, das physikalische Weltbild zu vereinheitlichen und den Gegensatz zwischen Energie und Materie zu überwinden, werde als seine größte Leistung in die Geschichte der Physik eingehen, prophezeite 1957 sein früherer Assistent Wilhelm Kast in seinem Nachruf.
Geboren am 29. September 1868 in Rostock in einer religiösen Familie, wollte Gustav Mie zunächst Theologie studieren, entschied sich dann aber für Mathematik und Naturwissenschaften. Nach zwei Jahren in Rostock wechselte er 1888 nach Heidelberg, wo er 1891 sein Staatsexamen in Mathematik und Physik ablegte. Nur vier Monate später promovierte er über partielle Differentialgleichungen.
Für sein Hauptinteresse, die theoretische Physik, gab es in Deutschland zu dieser Zeit nur wenige Lehrstühle. Nachdem er übergangsweise an einer Jungenschule Mathematik unterrichtet hatte, nahm er 1892 ein Angebot aus Karlsruhe an, das dortige Physikpraktikum zu leiten. Es ist bezeichnend, dass er sich daran machte, die Experimente nachzustellen, die Heinrich Hertz sechs Jahre zuvor dort gemacht hatte.
Der junge Mie wurde zu einem Vertreter des elektromagnetischen Weltbildes, das versuchte, alle Phänomene mithilfe elektromagnetischer Wellen und Felder auf der Basis der Maxwell Gleichungen zu beschreiben. Dieses Programm hatte mit Hendrik Antoon Lorentz begonnen. Mie störte, dass die Gravitationstheorie Newtons auf Fernwirkungen basiert. Es sollten aber noch 20 Jahr vergehen, bis er seine eigene „Theorie der Materie“ entwickelte.
Mit 34 Jahren (1902) wurde er zunächst auf eine Professur für Experimentalphysik nach Greifswald berufen. „Gerade das nun war für meine Entwicklung von besonderer Bedeutung. Soviel ich selber über mich urteilen kann, ist es mein Beruf geworden, die Verbindung zwischen theoretischer und experimenteller Physik herzustellen“, schrieb Mie rückblickend. Die Verbindung zur Theorie pflegte er insbesondere während der Winterferien in Mittenwald, wo er sich jedes Jahr mit seinem Freund Willi Wien, Arnold Sommerfeld, Max von Laue, Peter Debye und anderen Physikern traf.
Die 15 Jahre in Greifswald waren seine produktivste Zeit. 1908 schrieb er eine Arbeit über die Optik trüber Lösungen. Er entdeckte den Effekt, dass Licht an kugeligen dielektrischen sowie an absorbierenden Teilchen asymmetrisch gebrochen wird. Dank des „Mie-Effekts“ kann man auf die Größe von Makro-Molekülen in Lösungen schließen und interstellare Materie erforschen. 1910 kam sein Lehrbuch der Elektrizität heraus, das mehrere Auflagen erlebte und in andere Sprachen übersetzt wurde. Noch mit 80 Jahren überarbeitete er die dritte Auflage.
Mie gehörte zu den ersten Physikern, die versuchten, Elektromagnetismus und Gravitation in einer Theorie zusammenzufassen. In seinen Aufsätzen zur „Theorie der Materie“, die in den Jahren 1912 bis 1913 in den Annalen der Physik erschienen, versuchte er, ebenso wie Einstein, die Maxwell-Lorentz-Gleichungen so abzuändern, dass sie Quantenphänomene erklären konnten. Obwohl Mie das Relativitätsprinzip Einsteins berücksichtigte, sah er keine Notwendigkeit, auf den Äther zu verzichten. Er benutzte den Äther auch als Synonym für das elektromagnetische Feld oder den Raum, der allerdings nicht mit dem physikalischen Geschehen wechselwirkte. Materie war in seiner Theorie nichts anderes als ein „Energieknoten“ der Kraftfelder im Äther.
Der Wissenschaftshistoriker Gunter Kohl hat diese Jahre, in denen auch Einstein um die Allgemeine Relativitätstheorie rang, detailliert untersucht. Er weist darauf hin, dass die meisten Physiker zu dieser Zeit keine Notwendigkeit für eine neue Gravitationstheorie sahen. Eine Ausnahme waren die Mathematiker um David Hilbert in Göttingen, zu denen auch Max Born gehörte. Als Physiker inspirierte ihn vor allem, dass Mie das Variationsprinzip in die Elektrodynamik eingeführt hatte. Noch bevor Mies dritter Aufsatz erschienen war, trug Born in der Göttinger Mathematischen Gesellschaft über Mies Theorie vor. Es ist vermutlich auch Born zu verdanken, dass Hilbert sich mit Mies Theorie beschäftigte und sie zusammen mit den Überlegungen Einsteins verwendete, um 1915/16 Gleichungen für eine erste vereinheitlichte Feldtheorie aufzustellen.
Einstein und der 11 Jahre ältere Mie haben sich mehrfach auf Naturforscherversammlungen getroffen, nach einem längeren Briefwechsel auch privat in Einsteins Berliner Wohnung. Aber obwohl Mie die Allgemeine Relativitätstheorie zeitweise als eine korrekte Beschreibung der Natur akzeptierte, kamen ihm wieder Zweifel. Als Ursache vermutet Kohl die unterschiedliche Denkweise Mies. Anders als der Theoretiker Einstein, war er inzwischen von der Experimentalphysik geprägt: Für ihn mussten Axiome den Test der Nützlichkeit für das Experiment bestehen und durften nicht zu stark im Widerspruch mit der Alltagserfahrung stehen.
Während der NS-Diktatur gehörte Gustav Mie, der von 1924 bis zu seiner Emeritierung 1935 an der Universität Freiburg lehrte, dem oppositionellen „Freiburger Konzil“ an. Es wurde von einer Gruppe von Wirtschaftswissenschaftlern, Juristen und Christen verschiedener Bekenntnisse nach den Pogromen im November 1938 gegründet und bestand bis zu den Verhaftungen der Hauptakteure im Oktober 1944.
Als Gustav Mie im Februar 1957 im Alter von 89 Jahren starb, hob Wilhelm Kast im Nachruf die Stärke von Mies christlichem Glauben hervor. Er sah darin die Wurzeln für „die natürliche Anspruchslosigkeit und Liebenswürdigkeit seines Wesens sowie die Unbestechlichkeit seines Urteils und Charakters.“
Anne Hardy
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