Vom Isolator zum Metall und zurück
Halbleitermaterial in realer Bauelementegeometrie schaltet blitzschnell zwischen leitendem und nichtleitendem Zustand.
Neue Untersuchungen zufolge können Materialien, die in der Computerchip-Entwicklung häufig übersehen werden, tatsächlich eine wichtige Rolle in der Informationsverarbeitung spielen. Diese Entdeckung könnte zu schnelleren und effizienteren Elektronikgeräten führen. Ein internationales Team beobachtete nun überraschende Aktivitäten in einem Halbleitermaterial unter Verwendung fortschrittlicher Bildgebungstechniken. Die Ergebnisse könnten laut dem Team der Pennsylvania State University (USA) und dem Paul-Drude-Institut für Festkörperelektronik in Berlin zu schnelleren und energieeffizienteren elektronischen Geräten führen.
Zum ersten Mal hat ein Forscherteam beobachtet, wie sich ein Halbleitermaterial aktiv vom Verhalten eines Isolators zu dem eines Metalls und zurück in einer realen Bauelementeegeometrie umschaltet. Sie verwendeten dafür eine komplexe Bildgebungstechnik. Die einzigartige Abbildung des Schaltvorganges in einem voll funktionsfähigen elektronischen Bauelement unter Verwendung von Röntgen-Beugungsmikroskopie zeigte überraschend auch Aktivitäten im Substrat unter dem Halbleiter.
Die Forscher untersuchten das Halbleitermaterial Vanadiumdioxid, das großes Potenzial als elektronischer Schalter zeigt. Sie untersuchten auch, wie Vanadiumdioxid mit dem Substratmaterial Titandioxid interagiert, und waren überrascht zu entdecken, dass es eine aktive Schicht im Substrat zu geben scheint, die sich ähnlich verhält wie das Halbleitermaterial darüber, wenn der Halbleiter zwischen einem Isolator und einem Metall wechselt. Die Erkenntnis, dass Substrate eine aktive Rolle in Halbleiterprozessen spielen können, ist bedeutend für das Design zukünftiger Materialien und Bauelemente, sagte der Studienleiter Venkatraman Gopalan, Professor für Werkstoffwissenschaft und -technik sowie für Physik an der Penn State.
Moderne Computer enthalten Unmengen von Transistoren aus Halbleitermaterialien, die durch Anlegen einer Spannung zwischen zwei Zuständen — null und eins — umgeschaltet werden können. „Smartphones und Laptops enthalten Milliarden von Transistoren“, sagte Roman Engel-Herbert, Direktor des Paul-Drude-Instituts für Festkörperelektronik und Mitautor der Studie in Advanced Materials. „Um Informationen zu verarbeiten und Berechnungen durchzuführen, müssen wir zwischen den beiden Zuständen des Transistors umschalten, und jeder einzelne Schaltvorgang erfordert Energie. Die riesige Nachfrage nach Rechenleistung und die dafür notwendige enorme Menge an verwendeten Transistoren treibt den Bedarf nach mehr Rechenzentren, die die größten und am schnellsten wachsenden Energieverbraucher sind. Wir müssen Materialien finden, die zwischen den beiden Transistorzuständen auf eine viel energieeffizientere Weise umschalten können als bisherige Materialien.“
Gopalan betont: „Eine Vorschlag hierfür sind Materialien wie Vanadiumdioxid, die einen Metall-Isolator-Übergang aufweisen, der zwischen dem metallischen – entsprechend einer ‚1‘ — und dem isolierenden — der ‚0‘ — Zustand in einer Billionstelsekunde umschalten können.
Das Potenzial von Vanadiumdioxid als Metall-Isolator-Transistor ist gut dokumentiert und das Material gilt aufgrund seines geringen Energieverbrauchs als vielversprechend für die Halbleitertechnologie, sagte Gopalan. Die Eigenschaften des Materials sind jedoch noch nicht vollständig verstanden worden, und bisher wurde es in der Regel isoliert und nicht in einem realen Bauelement untersucht.
Darüber hinaus zeigt Vanadiumdioxid starke korrelierte elektronische Effekte, was bedeutet, dass die Abstoßung zwischen Elektronen wichtig ist – anders als bei den derzeit verwendeten Silizium-basierten Bauelementen der. Diese Eigenschaft kann zu Materialien mit neuen Funktionalitäten wie Hochtemperatursupraleitung und verbesserten magnetischen Eigenschaften führen.
„Die zugrunde liegende Physik dieses Materials ist kaum verstanden, und seine Leistung in einer Bauelementegeometrie ist noch weniger klar“, sagte Gopalan. „Wenn wir sie zum Funktionieren bringen können, wird es eine Renaissance in der Elektronik geben. Insbesondere neuromorphe Computer – Computersysteme, die von Neuronen inspiriert sind – könnten ganz wesentlich von solchen Bauelementen profitieren.“
Das Team entwarf ein Experiment, um Vanadiumdioxid in einer Bauelementegeometrie zu untersuchen, anstatt es isoliert zu betrachten und legte eine Spannung an, um es von seinem isolierenden in einen leitenden Zustand umzuschalten. Sie verwendeten leistungsstarke Röntgenstrahlen an der Advanced Photon Source (APS) am Argonne National Laboratory, Chicago, um die strukturelle Reaktion von Materialien auf atomarer Ebene mit hoher räumlicher und zeitlicher Auflösung zu untersuchen. Indem sie das Vanadiumdioxid-Element betrieben und gleichzeitig seine räumliche und zeitliche Reaktion auf das Umschaltereignis verfolgten, beobachteten die Forscher unerwartete Veränderungen in der Struktur des Materials und des Substrats.
„Was wir gefunden haben, war, dass sich der ganze Filmkanal des Vanadiumdioxid-Films beim Wechsel zum Metall aufweitet, was sehr überraschend ist“, sagte Gopalan. „Normalerweise soll er schrumpfen. Es war also klar, dass in der Filmgeometrie etwas vor sich ging, was zuvor übersehen wurde.“ Das APS-Röntgenlicht kann durch den Vanadiumdioxid-Film dringen und auch das Titandioxid-Substrat detektieren, auf dem der Vanadiumdioxid-Film gewachsen war. Das Substrat wird normalerweise als elektrisch und mechanisch passives Material angesehen.
„Wir stellten fest, dass dieses Substrat sehr aktiv ist und vollkommen überraschend strukturell auf elektrische Impulse reagiert, wenn der Film zwischen einem Isolator und einem Metall und zurückwechselt“, sagte Gopalan. „Dies ist wie wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt, was uns lange Zeit ratlos machte. Dieses überraschende und zuvor übersehene Verhalten ändert völlig, wie wir diese Technologie betrachten müssen.“
Um diese Ergebnisse zu verstehen, entwickelte die Theorie- und Simulationsgruppe — unter der Leitung von Long-Qing Chen, Hamer Professor für Werkstoffwissenschaft und -technik, Professor für Ingenieurwissenschaften und Mechanik sowie für Mathematik an der Penn State — einen theoretischen Rahmen, um den gesamten Prozess der Aufblähung des Films und des Substrats zu erklären. Als ihr Modell natürliche fehlende Sauerstoffatome in diesem Material in geladenem und ungeladenem Zustand berücksichtigte, konnten die experimentellen Ergebnisse zufriedenstellend erklärt werden.
„Diese neutralen Sauerstoffleerstellen tragen eine Ladung von zwei Elektronen, die sie freisetzen können, wenn das Material von einem Isolator zu einem Metall wechselt“, sagte Gopalan. „Die hinterlassene Sauerstoffleerstelle ist jetzt geladen, und der Kristall schwillt an, was zu der beobachteten überraschenden Aufblähung im Bauelement führt. Diese Reaktion kann auch im Substrat auftreten. Alle diese physikalischen Prozesse werden in der Phase-Feld-Theorie und Modellierung erfasst, die in dieser Arbeit zum ersten Mal von Yin Shi in der Gruppe von Professor Chen durchgeführt wurden.“
Gopalan und Engel-Herbert schrieben das kombinierte Fachwissen des multidisziplinären Teams in den Bereichen Materialwachstum, Synthese, Strukturanalyse und Synchrotronstrahlführung dem neuen Verständnis zu. Durch einen kooperativen Ansatz unter der Leitung von Greg Stone, dem leitenden experimentellen Autor, und Yin Chi, dem leitenden Theorieautor, entwirrten die Forscher die Reaktionen des Materials und betrachteten sie einzeln mit Phasenfeldsimulationen, einer Simulation, die Wissenschaftlern hilft, die Veränderung der Materialeigenschaften über die Zeit zu verstehen, indem sie verschiedene Materiezustände in einem virtuellen Umfeld darstellt.
„Indem wir diese Experten zusammenbrachten und unser Verständnis des Problems bündelten, konnten wir weit über unseren individuellen Fachbereich hinausgehen und etwas Neues entdecken“, sagte Engel-Herbert, dessen Gruppe diese Filme zusammen mit der Gruppe von Darrell Schlom an der Cornell University herstellte. „Die Anerkennung des Potenzials funktionaler Materialien erfordert eine Wertschätzung ihres breiteren Kontexts, genauso wie komplexe wissenschaftliche Herausforderungen nur durch Erweiterung unserer individuellen Perspektiven gelöst werden können.“
Die Reaktionen selbst erfordern weitere Untersuchungen, sagten die Forscher, aber sie glauben, dass das Verständnis dieser Reaktionen dazu beitragen wird, bisher unbekannte Eigenschaften von Vanadiumdioxid zu identifizieren, einschließlich potenzieller, bisher unentdeckter Phänomene im Titandioxid-Substrat, das bislang als passiv betrachtet wurde. Die Studie selbst dauerte laut Gopalan über zehn Jahre, einschließlich der Validierung der Ergebnisse.
„Das ist der Weg vom interessanten Wissenschaftsbereich hin zu einem funktionsfähigen Bauelement, das man in der Hand halten kann“, sagte Gopalan. „Experimente und Theorien sind komplex und erfordern große kollaborative Teams, die über einen längeren Zeitraum eng zusammenarbeiten, um schwierige Probleme zu lösen, die einen großen Einfluss haben könnten. Wir hoffen und erwarten, dass dies den Fortschritt hin zu einer neuen Generation von elektronischen Bauelementen beschleunigen wird.“
PDI / DE