Die Rotationsachse des Erdtrabanten steht nahezu senkrecht auf der Ebene der Umlaufbewegung des Erde-Mond-Systems um die Sonne. Daher gibt es auf dem Mond keine jahreszeitlichen Variationen der Sonneneinstrahlung. In den polaren Regionen existieren daher zahlreiche Krater, deren Inneres durch ihre Ringgebirge permanent gegen die Einstrahlung der Sonne abgeschirmt ist. In diesen ewig im Schatten liegenden Gebieten könnten sich, so wurde schon in den 1960er Jahren vorgeschlagen, Wasserdampf und andere Gase niedergeschlagen haben, die durch den Einschlag von Kometen auf den Mond gelangt sind.
Abb.: Eis-Ablagerungen an den Mondpolen, gemessen von der Sonde Lunar Prospector. Die Maxima sind gegen die heutigen Pole verschoben und markieren vermutlich die Pole der Rotationsachse vor mehreren Milliarden Jahren. (Bild: J. T. Keane, LPL)
Erst mit der US-amerikanischen Sonde Lunar Prospector gelang es jedoch 1998, diese Eisvorkommen tatsächlich nachzuweisen. Messungen mit dem Neutronen-Spektrometer des Mondorbiters zeigten an den lunaren Polen einen erhöhten Wasserstoffanteil im oberflächennahen Gestein – und Wasser besteht aus Wasserstoff und Sauerstoff. Dem Gestein ist in den im ewigen Dunkel liegenden Gebieten 0,3 bis ein Prozent Eis beigemischt, so kalkulierten die Forscher – insgesamt ergibt das vier Milliarden Tonnen Wasser am lunaren Nordpol und zwei Milliarden Tonnen am lunaren Südpol. Daraus ließe sich nicht nur Trinkwasser und Sauerstoff für eine Mondstation gewinnen, sondern auch Treibstoff für Flüge zur Erde oder zu anderen Himmelskörpern.
Doch das Eis an den Polen des Erdtrabanten ist noch aus ganz anderen Gründen interessant, wie eine neue Analyse der Daten der Lunar Prospector-Mission mit verbesserten statistischen Methoden durch ein amerikanisch-japanisches Forscherteam jetzt zeigt: Die Verteilung des Eises erlaubt Rückschlüsse auf die Entwicklungsgeschichte des Mondes. Die Verteilung des Wasserstoffs stimmt nämlich nicht mit Temperaturmodellen der Polarregionen überein, so das Ergebnis der Untersuchung von Matthew Siegler vom Planetary Science Institute in Tucson im US-Bundesstaat Arizona und seiner Kollegen.
Abb.: Der Vulkanismus in der Procellarum-Region veränderte die Dichteverteilung im Inneren des Mondes und ließ daher seine Rotationsachse kippen. (Bild: J. T. Keane, LPL)
Diese Modelle sagen – wenig überraschend – ein Maximum für die Verteilung exakt an den Polen der Rotationsachse voraus. Das deckt sich jedoch nicht mit den Messungen, wie Siegler und seine Kollegen feststellen: Die Maxima liegen nicht bei 90 Grad, sondern jeweils bei 84,5 Grad nördlicher und südlicher Breite. Diese Verschiebung ist aber nicht willkürlich, sondern an beiden Polen in entgegengesetzter Richtung. Zieht man eine Linie vom nördlichen zum südlichen Maximum, so geht sie exakt durch den Mittelpunkt des Mondes.
Siegler und seine Kollegen ziehen daraus den Schluss, dass die Maxima der Eis-Ablagerungen die ursprünglichen „Paläo-Pole“ des Erdtrabanten markieren und die Rotationsachse des Mondes seit der Entstehung der Ablagerungen um sechs Grad gekippt ist. Auch eine mögliche Ursache für diese Pol-Wanderung haben die Forscher identifiziert: die Bildung der vulkanischen Procellarum-Region in der frühen Geschichte des Mondes. Solche Prozesse sind auch von anderen Himmelskörpern her bekannt. So hat die Entstehung der Tharsis-Region auf dem Mars dessen Rotationsachse vermutlich sogar um zwanzig Grad kippen lassen. Die Procellarum-Region war nach heutigen Erkenntnissen in der Frühzeit des Mondes vulkanisch aktiv. Demnach hat sich dann auch das Wasser an den Polen nicht gleichmäßig über die ganze lunare Geschichte, sondern überwiegend bereits in der Frühzeit dort abgelagert. Das Eis an den Polen des Mondes ist damit für die Forscher noch interessanter geworden, da es Informationen über die Frühgeschichte des Sonnensystems enthalten könnte.
Rainer Kayser
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