Warten auf die ESS
Angesichts der noch immer ungeklärten Finanzierung weisen deutsche Neutronenforscher auf die große Bedeutung der Europäischen Spallationsneutronenquelle hin.
Das Bauland für die Europäische Spallationsneutronenquelle (ESS) unweit der schwedischen Stadt Lund ist ausgewählt und untersucht – nicht nur von Archäologen, die dabei u. a. ein Grab aus dem Jahr 200 zutage gefördert haben. Im Rahmen der Bauvorbereitung rammen Arbeiter derzeit testweise Pfähle in den Boden. Auch die Blaupausen liegen bereit. Ob der Bau der ESS aber wirklich 2014 beginnt, ist angesichts der noch immer ungeklärten Finanzierung offen. Eine Hälfte der auf 1,8 Milliarden Euro veranschlagten Baukosten wollen zwar Schweden, Dänemark, Norwegen und die baltischen Staaten übernehmen. Aber obwohl 17 europäische Länder, darunter Deutschland, bereits im Februar 2011 ein „Memorandum of Understanding“ unterschrieben haben, hat bislang nur Frankreich im vergangenen Oktober zugesagt, sich an der Finanzierung zu beteiligen. „Viele Länder und vor allem die deutsche Nutzergemeinschaft warten dringend auf ein starkes deutsches Commitment“, sagt Tobias Unruh, Physikprofessor an der Universität Erlangen-Nürnberg und Vorsitzender des Komitees für Forschung mit Neutronen (KFN), das mehr als tausend deutsche Neutronenforscher vertritt. Das KFN hat daher in einer Stellungnahme Anfang November auf die Rolle der Neutronenforschung für die großen gesellschaftlichen Herausforderungen hingewiesen und eine starke deutsche Beteiligung an der ESS gefordert.
Auf der grünen Wiese nahe der südschwedischen Stadt Lund soll die Europäische Spallationsneutronenquelle (ESS) entstehen. (Bild: ESS)
Im Gegensatz zu einem Forschungsreaktor entstehen bei einer Spallationsquelle die Neutronen, wenn Atomkerne eines Targets beim Beschuss mit Protonen eines Beschleunigers „zerplatzen“. Die ESS soll auf diese Weise Neutronenpulse erzeugen, deren Fluss den mittleren Fluss des Reaktors am Institut Laue-Langevin (ILL) in Grenoble um einen Faktor 30 übertrifft. In seiner Stellungnahme erläutert das KFN, wie es diese Neutronenpulse in Kombination mit der geplanten „innovativen Instrumentierung“ erlauben werden, Materialien für Wasserstoffspeicher in-situ während der Reaktion mit Wasserstoff zu beobachten, das Verständnis der Funktion von Proteinen signifikant zu vergrößern oder neuartige Quantenphänomene in Festkörpern zu untersuchen. Weitere Beispiele für die wissenschaftliche Attraktivität der ESS reichen von Ingenieurwissenschaften und Informationstechnologie bis hin zu Chemie und Pharmazie. Natürlich decken auch Experimente an Röntgenquellen, die mit Neutronenquellen um Fördermittel konkurrieren, ein vergleichbar breites Spektrum ab. Aufgrund der besonderen Eigenschaften des Neutrons – keine elektrische Ladung, endliches magnetisches Moment und starke Wechselwirkung mit leichten Atomen – sind die Untersuchungen mit diesen beiden „Sonden“ jedoch häufig komplementär, und nur der gemeinsame Einsatz erlaube „eine umfassende Antwort auf die komplexen Fragestellungen der gesellschaftlichen Herausforderungen“.
Angesichts dieser Herausforderungen hält das KFN eine deutsche Beteiligung am Betrieb der ESS mit etwa 25 Prozent für notwendig, das entspricht dem deutschen Beitrag am ILL. Doch selbst wenn sich die beteiligten Ministerien über die Finanzierung einigen und die ESS wie derzeit noch angekündigt 2019 in Betrieb geht, ist für die deutsche Nutzergemeinschaft ein längerer Parallelbetrieb von ILL und ESS ganz wesentlich. „Da die ESS auf der grünen Wiese gebaut wird, muss dort ein zum ILL vergleichbarer Nutzerbetrieb auf höchstem internationalen Niveau erst aufgebaut werden“, sagt Unruh: „Das geht nicht von heute auf morgen.“
Handlungsbedarf sieht das KFN auch bei den Quellen auf deutschem Boden, an denen sich all diejenigen Untersuchungen durchführen lassen, die nicht auf die einzigartigen Möglichkeiten der ESS angewiesen sind. Die starke Position Deutschlands in der Neutronenforschung sei auch maßgeblich diesen Quellen zu verdanken. „Wir haben immer Quellen und Instrumente mit großem Erfolg auf internationalem Niveau entwickelt und betrieben“, betont Unruh. Nachdem die Reaktoren in Geesthacht sowie Jülich 2010 bzw. 2006 stillgelegt wurden, stehen der Wissenschaft in Deutschland derzeit allerdings nur noch die Reaktoren in Berlin (BER II) und Garching (FRM II) zur Verfügung. Zudem hat das Helmholtz-Zentrum Berlin (HZB) im Sommer beschlossen, den BER II bis Ende 2019 ebenfalls stillzulegen und ganz aus der Neutronenforschung auszusteigen. „Angesichts des in Berlin vorhandenen Knowhows wäre das ein ganz herber Verlust“, ist Unruh überzeugt: „Gerade auch für die am HZB so starke Energieforschung bieten Neutronen einzigartige Möglichkeiten.“ Das KFN würde es sehr befürworten, wenn sich das HZB stattdessen stark an der ESS engagieren würde, ähnlich wie es das Forschungszentrum Jülich seinerzeit am FRM II getan hat.
Damit die Versorgung mit Neutronen auch über das Jahr 2020 hinaus gesichert ist – dann wird der FRM II wohl die einzige Quelle auf deutschem Boden sein –, sollte möglichst frühzeitig die Planung einer auf hohe Brillanz optimierten nationalen Spallationsquelle angegangen werden, die sich nach dem absehbaren Auslaufen des ILL in den 2030er-Jahren kostenneutral betreiben lasse. Angesichts der bei solchen Projekten oft jahrzehntelangen Planungs- und Bauphase – die ersten Überlegungen zur ESS liegen über 20 Jahre zurück – müsste schon ein Wunder geschehen, damit sich in diesem Zeitrahmen eine neue nationale Quelle realisieren lässt.
Stefan Jorda