09.10.2019

Zwillingsparadoxon in der Quantenmechanik

Ein Atominterferometer soll die auf eine Atomuhr wirkende speziell relativistische Zeitdilation messen.

Eine der fundamentalen Heraus­forderungen der Physik ist die Vereinigung von Einsteins Relativitäts­theorie und der Quanten­mechanik. Die Notwendigkeit, diese beiden Säulen der modernen Physik kritisch zu hinterfragen, ergibt sich zum Beispiel aus extrem energie­reichen Ereignissen im Kosmos, die sich bisher nur durch jeweils eine, nicht aber beide Theorien im Einklang erklären lassen. Daher fahnden Forscher weltweit nach Abweichungen von den Gesetzen der Quantenmechanik und der Relativitäts­theorie, die Einblick in eine neue Physik eröffnen könnten. Wissenschaftler der Leibniz Universität Hannover und der Universität Ulm haben sich nun das aus Einsteins spezieller Relativitäts­theorie bekannte Zwillings­paradoxon vorgenommen. Dieses Gedanken­experiment dreht sich um ein Zwillings­paar: Während ein Bruder ins Weltall reist, bleibt der andere auf der Erde zurück. Für eine gewisse Zeit bewegen sich die Zwillinge also auf unter­schiedlichen Bahnen im Raum. Treffen sich die beiden wieder, ist die Überraschung groß: Der Zwilling, der durchs All gereist ist, ist deutlich weniger gealtert als sein daheim gebliebener Bruder. Dieses Phänomen erklärt sich durch die von Einstein beschriebene Zeit­dilation: Abhängig davon, mit welcher Geschwin­digkeit und wo im Schwerefeld sich zwei Uhren relativ zueinander bewegen, ticken sie unter­schiedlich schnell.

Abb.: Illustration der quanten­mechanischen Variante des...
Abb.: Illustration der quanten­mechanischen Variante des Zwillings­paradoxons. (Bild: A. Friedrich, U. Ulm)

Die Forscher sind von einer quanten­mechanischen Version des Zwillings­paradoxons mit nur einem Zwilling ausgegangen. Dank des Überlagerungs­prinzips der Quantenmechanik kann sich dieser zeitgleich auf zwei Pfaden bewegen. Im Gedanken­experiment der Forscher wird der Zwilling durch eine Atomuhr repräsentiert. „Solche Uhren nutzen die Quanten­eigenschaften von Atomen, um Zeit hochgenau zu messen. Die Atomuhr ist also selbst ein quanten­mechanisches Objekt, und kann sich aufgrund des Überlagerungs­prinzips auf zwei Wegen gleichzeitig durch die Raumzeit bewegen. Gemeinsam mit Kollegen aus Hannover haben wir untersucht, wie sich diese Situation im Experiment umsetzen lässt“, erläutert Enno Giese vom Ulmer Institut für Quantenphysik. Hierzu haben die Forscher auf Basis eines quanten­physikalischen Modells erstmals einen experi­mentellen Aufbau für dieses Szenario entwickelt.

Eine wesentliche Rolle spielt hierbei eine zehn Meter hohe Atomfontäne, die derzeit an der Leibniz Universität Hannover entsteht. Anhand von Quanten­objekten wie der Atomuhr können die Forscher in diesem Atominter­ferometer relativistische Effekte überprüfen – so auch die im Zwillings­paradoxon beschriebene Zeitdilation. „In einem Experiment würden wir eine Atomuhr in das Inter­ferometer schicken. Die entscheidende Frage lautet dann: Unter welchen Umständen lässt sich nach dem Versuch, bei dem sich die Uhr ja auf zwei Bahnen gleichzeitig befindet, ein Zeit­unterschied feststellen?“, erläutert Sina Loriani vom Institut für Quanten­optik der Leibniz Universität Hannover.

Die theoretischen Vorarbeiten der Physiker sind vielver­sprechend: Sie haben, wie beschrieben, ein quanten­physikalisches Modell für das Atom­interferometer entwickelt, das die Wechselwirkung zwischen Lasern und Atomen ebenso berücksichtigt wie die Bewegung der Atome – selbstverständlich unter Beachtung rela­tivistischer Korrekturen. „Mithilfe dieses Modells können wir eine tickende Atomuhr, die sich in einer räumlichen Überlagerung gleichzeitig entlang zweier Wege bewegt, beschreiben. Darüber hinaus weisen wir nach, dass ein Atom­interferometer wie es in Hannover entsteht, den Effekt der speziell relativistischen Zeitdilation auf eine Atomuhr messen kann“, resümiert Alexander Friedrich, Doktorand am Ulmer Institut für Quantenphysik. Aufgrund ihrer theoretischen Überlegungen können die Forscher schon jetzt annehmen, dass sich eine einzelne Atomuhr wie im Zwillings­paradoxon vorhergesagt verhält: Relativitäts­theorie und Quanten­mechanik sind hier also gut miteinander vereinbar. Der von anderen Gruppen angenommene Einfluss der Gravitation lässt sich in einem experi­mentellen Vorschlag dieser Art aber wohl nicht nachweisen.

In wenigen Jahren kann das in der Theorie beschriebene Experiment voraus­sichtlich im neuen Atominter­ferometer in Hannover umgesetzt werden. Ganz praktisch könnten die Ergebnisse der Forscher dabei helfen, auf Atominter­ferometern beruhende Anwendungen wie Navigation oder Beschleunigungs- und Rotations­messungen zu verbessern. Die Forschung der Ulmer und Hannoveraner Physiker ist im Zuge des Sonder­forschungsbereichs DQ-mat und des Projekts Quantus entstanden und soll in Zusammen­arbeit der neuen Institute des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt DLR in Ulm und Hannover weitergeführt werden.

U. Hannover / JOL

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